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Schauspiel erschlägt Musik

ORPHÉE ET EURIDICE
(Christoph Willibald Gluck)

Gesehen am
14. Februar 2021
(Premiere/Livestream)

 

Opernhaus Zürich

Wenn das Regieteam im Vorfeld einer Opern-Inszenierung verlauten lässt, es sei nicht einfach, ein Werk ohne viel Handlung in Szene zu setzen, dann sollte man hellhörig werden. Erst recht, wenn der Regisseur Christoph Marthaler und seine Ausstatterin Anna Viebrock heißen. Die fehlende Handlung wird dann nämlich nicht selten mit sehr viel intellektuellem Ballast gefüllt, den es während der gesamten Aufführungsdauer zu entschlüsseln gilt. Eine relativ einfache Geschichte wird dann zum überfrachteten Monsterapparat, für den es eine Betriebsanleitung braucht.

Die Agentin mit Sonnenbrille, dunkler Pagen-Frisur und kurzem Twiggy-Jupe lässt jedenfalls nichts Gutes erahnen. Während die Philharmonia Zürich die ersten Takte von Christoph Willibald Glucks Vierakter Orphée et Euridice erklingen lässt, steht das klandestine Fräulein mit einer Mini-Musikbox vor dem gezogenen Vorhang und hält dieses Holzkästchen ostentativ ins Auditorium, das Corona-bedingt jedoch leer ist. Doch das ist erst der Auftakt zu einer turbulenten Geistervorstellung ohne Publikum, die per Livestream auf die Flachbildschirme gebeamt wird. Bald bevölkern auch sichtbare Untote die Bühne und verdeutlichen unmissverständlich, dass deren letzte Zuckungen noch lange nicht zu Ende sind, bevor sie wie vom Blitz getroffen zu Boden sinken. Und wieder aufstehen!

Die Zuschauer vor ihren Bildschirmen blicken in einen verwinkelten Raum, den man zeitlich am ehesten in den Sechziger Jahren verorten kann. Was vorderhand eine gewisse Ästhetik beinhaltet, wird im Verlaufe der anderthalb Stunden Spieldauer zu einem nervösen Panoptikum, das unablässig Hinweise und Symbole liefert. Zum vollen Körpereinsatz gehören Pantomime, Stummfilm-Gestik mit weit aufgerissenen Augen, hysterisches Lachen sowie roboterhafte Bewegungen. Es wird deklamiert und das gleich in verschiedenen Sprachen. Für den extra hinzugedichteten Geistertanz in diesem heroischen Drama engagierte Marthaler nicht weniger als sieben Akteure.

Das überbordende Schauspiel erschlägt in diesem inzwischen antiquierten Regietheater die betörend schöne Musik. Der kafkaeske Reigen beginnt, sobald sich der Vorhang hebt und die Titelfigur Orphée zeigt, der um seine Geliebte Euridice trauert. Deren sterbliche Überreste befinden sich in einer Urne, die hastig herumgereicht wird, weil sie niemand haben will. Der Fahrstuhl zur Hölle folgt wenig später. Dank verschiebbaren Wänden geht das relativ flott. Im dunklen Hades nehmen die akrobatischen Verrenkungen prompt ihren weiteren Verlauf. Damit das muntere Treiben nicht allzu redundant wirkt, robbt die Mannschaft auch mal unmotiviert auf dem Boden herum oder macht zur Abwechslung einen kühnen Handstand.

Die Fernseher im Hintergrund haben keinen Empfang, gut möglich, dass zu diesem Zeitpunkt auch die Zuschauer innerlich abgeschaltet haben. Nichtsdestotrotz wird Euridice wieder zum Leben erweckt, ein paar Tropfen eines Elixiers im edlen Cognac-Schwenker reichen völlig aus. Dass es zuerst gut kommt mit der Zusammenführung der beiden Liebenden, und dann wieder nicht, braucht die volle Konzentration bei all der Ablenkung. Ein roter Faden könnte die gestrickte Gelbweste des Orphée bilden, denn dort, wo der Held weilt, findet sich auch der ursprüngliche Erzählstrang wieder. Hier muss man der Regie attestieren, dass sie die drei Protagonisten im Gegensatz zum hyperaktiven Geister-Getummel fast schon stoisch durch die Szenerie schreiten lassen.

Christoph Willibald Glucks Meisterwerk Orfeo ed Euridice wurde 1762 in Wien uraufgeführt. Zürich spielt die Fassung von Hector Berlioz aus dem Jahr 1859 mit dem französischen Libretto von Pierre-Louis Moline nach Ranieri de’ Calzabigi. Statt zweieinhalb Stunden, gibt es die auf 90 Minuten gekürzte Variante. Das mag hinsichtlich der angestrengten Inszenierung ein Segen sein.

In Punkto Musik und Gesang hätte man sich gerne auf mehr eingelassen, denn das Orchester wie die drei Sängerinnen mitsamt dem Chor unter Ernst Raffelsberger sind vom Feinsten. Da wäre als erstes Nadezhda Karyazina als Orphée. Seinerzeit mit einem Kastraten und später mit einem Haute-Contre besetzt, erweist sich die Wahl für diesen ausgesprochen warmen Mezzosopran als Glückstreffer. In Karyazinas sinister gefärbter Stimme wabert heiße Lava, und es gelingt ihr behände, auch in den Höhen formschön und geschmeidig zu bleiben. Chiara Skerath setzt als Euridice im Tüllkleidchen den betörenden Vibrati ihrer Kollegin einen hellen wie wandelbaren Sopran entgegen. Mit der Figur des Amor, bei Marthaler eine strenge Gouvernante, ist Alice Duport-Percier mit ihrem silbern strahlenden Sopran die Idealbesetzung, auch wenn es ihr an etwas vokaler Leichtfüßigkeit mangelt.

Stefano Montanari, ein Experte für Alte Musik, bringt mit der Philharmonia Zürich Glucks schwebende Schlichtheit mit seiner unverkennbar einfachen Melodieführung subtil und ohne Tamtam zur Blüte. Wer beim Lieto fine, herbeigeführt vom Deus ex machina, die Augen aus nachvollziehbaren Gründen geschlossen hält, verpasst nichts. Auf der Bühne wird nämlich zum glücklichen Ende Pizza aus dem Karton gereicht und anschließend gleich sauber gemacht im Warteraum zum Jenseits. Auch Amor greift zum Besen. Manch einer wird sich das Spektakel gleichermaßen aus dem Gedächtnis fegen und dabei hoffen, dass der ersehnte Wiedereinstieg in die Live-Oper mit wesentlich mehr Herz und weniger Kopf vonstattengehen wird.

Peter Wäch