O-Ton

Kulturmagazin mit Charakter

Foto © Christian Palm

Aktuelle Aufführungen

Pianistenkunst auf höchstem Niveau

ZEIT FÜR BUSONI
(Ferruccio Busoni)

Besuch am
12. Juni 2024
(Einmalige Aufführung)

 

Klavier-Festival Ruhr, Historische Stadthalle Wuppertal

Wenn Klavierstudenten mit Ferruccio Busonis Klavierbearbeitungen der Orgelchoralvorspiele von Johann Sebastian Bach konfrontiert werden, müssen sie richtig büffeln, um die hochgradig schweren Nummern ordentlich spielen zu können. Etwa ist Komm, Gott Schöpfer, heiliger Geist eingangs auf drei Notensystemen notiert. Andere in der gewohnten Notation sind sehr verschachtelt zu Papier gebracht. Grundvoraussetzung, um solche Stücke einigermaßen vernünftig zum Erklingen zu bringen, sind ein einwandfreier Umgang etwa mit Skalen- und Arpeggio-Spiel jedweder Form. Kurzum: Schwerste Klaviertechniken gehören aus dem Effeff wie selbstverständlich beherrscht. Es gab und gibt angehende Klavierprofis, die lieber die Finger davon lassen.

Doch damit nicht genug. Beschäftigt man sich mit der Partitur seines Konzerts für Klavier und Orchester mit Männerchor in C-Dur, stellt sich die Frage, ob ein Pianist die Klaviernoten überhaupt konzertreif spielen kann. Zum Teil sind sie sogar auf vier Notensystemen notiert. Virtuoseste Fingerfertigkeit muss Hand in Hand gehen mit einem absolut präzisen Umgang mit dem mittleren und rechten Pedal. So wundert es nicht, dass dieses Opus 39 äußerst selten auf Konzertprogrammen steht. Denn es gibt weltweit etwa nur eine Handvoll Pianisten, die damit umgehen können. Außerdem spielen sie die Literatur nur ab und an öffentlich, da deren Umsetzung sehr viel Kraft erfordert.

Der in Kanada geborene Pianist Marc-André Hamelin ist solch eine Ausnahmeerscheinung. Auf Einladung des Klavier-Festivals Ruhr ist er nun auf den Johannisberg gereist, um im nicht ganz ausverkauften Großen Saal der Wuppertaler Historischen Stadthalle das mit einer Dauer von nicht ganz 75 Minuten umfangreichste Klavierkonzert überhaupt aufzuführen. Mit Fug und Recht ist sein Auftritt hinsichtlich klassischer Musik der städtische Konzerthöhepunkt der laufenden Spielzeit, der wohl auch jedem im Publikum anwesenden Pianisten nachhaltig in Erinnerung bleiben wird. Stoisch, in sich ruhend sitzt Hamelin ohne Körperbewegung ausdruckslos am Instrument. Einzig die Arme und Füße sind in Aktion. Präzise kultivierte Anschlagskultur und auf den Punkt genaue Pedaltechnik gehen Hand in Hand. Gestochen scharf kommen wieselflink perlende Läufe und Akkordkaskaden daher. Seine glasklare Spielweise lässt die notierten Klaviernoten plastisch vor Augen erscheinen. Nur bei wirklich schweren Abschnitten, die für unspielbar gehalten werden, verzieht er kurz ganz leicht angestrengt das Gesicht. Aber auch die gelingen ihm einwandfrei. Hinzu kommt eine tiefe Auslotung der musikalischen Inhalte. Packend und differenziert zeichnet er die musikalischen Linien und Stimmführungen nach. Solch eine hohe pianistische Meisterschaft haben viele Besucher wohl nur äußerst selten oder überhaupt noch nicht erlebt.

Man wäre wunschlos glücklich, wenn die Orchesterklänge gegenüber denen, die aus dem Tasteninstrument kommen, genauso hochwertig wären. Doch dem ist nicht so. Das liegt hauptsächlich an der Stabführung des Wuppertaler Generalmusikdirektors Patrick Hahn. Sein rechter Arm bewegt sich zwar präzise wie ein Metronom. Solches Rüstzeug reicht nur nicht aus, um den Inhalt der fünf Sätze deutlich zum Ausdruck zu bringen und für eine ausgewogene Balance zwischen Schlagzeug, Blech- und Holzbläsern, Streichern, Klavier und Chor zu sorgen. Es ist weitaus mehr notwendig als die reine Schlagtechnik, um nuanciert durchhörbare musikalische Linien und deren Changieren zwischen Stimmgruppen zu gestalten. Unerlässlich sind etwa umsichtige feine dynamischen Anweisungen, das jederzeit sehr präzise Erteilen von Einsätzen an alle Orchestergruppen und die Vermittlung von musikalischen Emotionen. Diese Techniken verwendet er nur spärlich. Das Resultat ist wahrlich keine Labsal für die Ohren: Die Rhythmusgruppe und das nicht immer intonationsreine Blech entfalten sich frei. Manche Einsätze klappern. Orchestergruppen harmonieren nicht immer ordentlich miteinander. An einem synchronen Zusammenspiel hapert es bisweilen. Die Klangbalance lässt ab dem Forte zu wünschen übrig. Das Accelerando, also die Tempobeschleunigung, von Klavier und Orchester ist disparat, weil Hahn nicht auf Hamelin achtgibt. Die ausgewogenen und profunden Männerstimmen des Jugendkonzertchors der Chorakademie Dortmund müssen im Finalsatz ihre Gesänge notgedrungen unschön dann forcieren, wenn es laut wird, um sich zumindest einigermaßen gegenüber dem Orchester behaupten zu können. Wenn man bedenkt, dass es sich bei dem Werk nicht um ein klassisches Klavierkonzert, sondern um eine Sinfonie mit obligatem Klavier und obligatem Chor handelt, sind folglich das Soloinstrument beziehungsweise der Vokalpart gleichwertiger kommunikativer Bestandteil des Orchesters. Auch diese musikalische Form kommt nicht hörbar von der Bühne. Vielmehr wird der Eindruck erweckt, als gehe es um eine Sinfonie mit drei voneinander unabhängigen Gruppen. Der städtische Klangkörper dominiert sogar bei lauten Passagen.

Letztendlich wird explizit Hamelin wegen seiner grandiosen, atemberaubenden Vortragskunst verdientermaßen mit nicht enden wollenden, stehenden Ovationen gefeiert. Trotz der großen, über 70-minütigen Kraftanstrengung bedankt er sich dafür mit zwei Zugaben, anhand derer er noch einmal seine außerordentlich hohe Musikalität und pianistische Klasse demonstriert: Music Box aus seiner eigenen Feder und aus Claude Debussys zweitem Band der Préludes pour piano die Nummer sechs mit dem Namen Général Lavine – excentrique: Dans le style et le mouvement d’un Cakewalk. Auf Deutsch: General Lavine – exzentrisch: Im Stil und in der Bewegung des Tanzes Cakewalk.

Hartmut Sassenhausen