O-Ton

Kulturmagazin mit Charakter

Foto © Jens Großmann

Aktuelle Aufführungen

Großer Hörgenuss

WERTHER
(Jules Massenet)

Besuch am
2. Oktober 2022
(Premiere)

 

Wuppertaler Bühnen, Opernhaus Wuppertal

Wenn Opern in der letzten Zeit ohne Bühnengeschehen aufgeführt wurden, lag es hauptsächlich an der Corona-Pandemie. Einige von ihnen können aber auch unabhängig davon konzertant in Programme aufgenommen werden, etwa Jules Massenets lyrisches Drama Werther. Denn nicht von ungefähr ist es als kammermusikalisches Werk bezeichnet und folglich bis auf das Wesentliche reduziert inszeniert worden. Im Kern geht es nämlich um die Seelenzustände in Sachen Liebe der Protagonisten, die nicht unbedingt einer visuellen Unterstützung bedürfen. Trotzdem scheint es wohl einigen Opernliebhabern nicht zu gefallen, wenn das Auge nicht viel zu tun bekommt, ist doch das Wuppertaler Opernhaus bei der Premiere der Neueinstudierung des Vierakters nur von einem sehr überschaubaren Publikum frequentiert. Die Anwesenden, welche sich von dieser Version nicht haben abschrecken lassen, kommen jedenfalls voll auf ihre Kosten.

Vor rund vier Jahren wurde das Stück bereits als Konzertinstallation in der Historischen Stadthalle Wuppertal, anschließend im Opernhaus präsentiert. Dann gab es eine lange Pause. Eine Neueinstudierung war wegen einiger anderer Sänger und eines anderen Dirigenten nötig. Eins ist geblieben: Videoprojektionen auf eine große Leinwand über dem Orchester. Dafür ist der Video-Künstler Momme Hinrichs zuständig. Er und Torge Møller, der überraschend letzten Monat im Alter von 50 Jahren aus dem Leben gerissen wurde, arbeiteten sehr erfolgreich mit vielen berühmten Regisseuren bei den Salzburger, Bregenzer und Bayreuther Festspielen, der Wiener, Berliner oder Hamburger Staatsoper zusammen. Zu sehen ist eine große Linde einsam oben auf einem Hügel mit Wiese im Sommer, Herbst und Winter. Diese idyllische Natur erinnert an den „Locus amoenus“, der in der deutschsprachigen Literatur der Romantik sehr beliebt war. Die Linde mit ihrem betörenden Duft der Blüten und den herzförmigen Blättern versinnbildlicht einen Ort der Liebe. Und darum geht es bekanntlich einzig und allein in Massenets Werther. Wenn der Baum in die Ferne gezoomt wird, erscheinen die Mutter Charlottes als Geist, ein Hausvorbau mit Säulen und Zaun, der Blick aus einer guten Stube mit Mutters Bild an der Wand neben dem Fenster oder ein heruntergekommenes Zimmer mit maroder Wandtäfelung. So werden Örtlichkeiten angedeutet, an denen gerade das Geschehen stattfindet. Diese subtilen Bildfolgen sind unaufdringlich präsent, ohne groß von der Musik und den Gesängen abzulenken.

Und das, was klanglich von der Bühne kommt, ist ein großer Hörgenuss, zumal in dieser Hinsicht die Opernfans in diesem Haus seit Beginn der letzten Spielzeit nicht verwöhnt wurden. Zu laut und undifferenziert kam oft der Klang aus dem Orchestergraben, dem trotz großer Anstrengung die Sänger oft nicht gewachsen sein konnten. Dieses Mal fühlen sie sich links und rechts vor dem Orchester aufgehoben, da sie sensibel und mitatmend vom Sinfonieorchester Wuppertal begleitet werden.

Tenor Sangmin Jeon als Werther und Mezzosopranistin Iris Marie Sojer als Charlotte ziehen in ihren Bann. Solistisch und in ihren vier wichtigen Duetten singen sie dank ihrer in jeder Hinsicht ausgewogenen und variablen Stimmen außerordentlich packend. Ergreifend bringen sie die Seelenzustände der beiden Protagonisten zum Ausdruck. Diesen Qualitäten erster Güte stehen Bariton Simon Stricker alias Albert und Sopranistin Ralitsa Ralinova, die als Charlottes jüngere Schwester Sophie wie ein Tausendschönchen daherkommt, in nichts nach. Auch die Sänger der Nebenrollen überzeugen mit ausdrucksstarken Stimmen. Hinzu gesellen sich ebenfalls vorzüglich disponierte weibliche Mitglieder des Kinder- und Jugendchors sowie der Damenchor der Wuppertaler Bühnen, exzellent von Ulrich Zippelius einstudiert.

Jederzeit können sie sich auf Johannes Witt, seit Beginn der Spielzeit 2021/22 erster Kapellmeister der Wuppertaler Oper, verlassen. Er hat sein Handwerk von der Pike auf gelernt. Nach seinem Studium in Köln und St. Petersburg war er zuerst als Repetitor am Staatstheater Darmstadt angestellt. Anschließend war er in gleicher Funktion, nun aber mit zusätzlicher Dirigierverpflichtung am Aalto-Theater in Essen tätig. Dort dirigierte er schließlich für fünf Spielzeiten als Zweiter Kapellmeister unter anderem große Opern. Die profunde Ausbildung ist an diesem Abend sicht- und hörbar. Er entlockt dem städtischen Orchester selbst im Forte kultivierte, durchhörbare Klangfarben. Gefühlvoll geht er hinsichtlich Dynamiken und Tempi auf die Bedürfnisse der Sänger ein, die deswegen ihre Partien frei und unverkrampft gestalten.

Für eine Weile ist es nach dem letzten Ton vor Ergriffenheit mucksmäuschenstill im Auditorium. Dann hebt verdienter tosender Beifall an, der in nicht enden wollende stehende Ovationen mündet.

Die nächste Aufführung findet am 29. Oktober statt. Dann steht Michael Cook vor dem Orchester. Auch diese Vorstellung verspricht ein Erlebnis zu werden, da der Studienleiter der Wuppertaler Oper ein ebenfalls erfahrener Dirigent ist.

Hartmut Sassenhausen