O-Ton

Kulturmagazin mit Charakter

Foto © Robert Hüsch

Aktuelle Aufführungen

Familientheater mit Ambitionen

WAHRHEIT 1.5
(Stefan Keim)

Besuch am
26. November 2022
(Premiere am 19. November 2022)

 

K4 Theater für Menschlichkeit, Wuppertal

Fünf Jahre ist es her, dass O-Ton über die Uraufführung von Mach’s noch einmal, Mona Lisa! im Kammerspielchen Oberhausen berichtete. Das Stück hatte Stefan Keim für das Schauspieler-Ehepaar Mona und Kris Köhler geschrieben. Seither ist viel passiert. Auch bei den Köhlers. Die erfüllten sich Anfang 2021 ihren Traum vom eigenen Theater. Um es gleich wieder zu schließen. Im Juni war es dann endlich so weit. Das K4 Theater für Menschlichkeit öffnete seine Pforten im Wuppertaler Stadtteil Elberfeld. Es ist ein pittoreskes Theater. Ein Foyer, das in ein kleines Café übergeht. Auf der anderen Seite liegt der schmale Theatersaal, ebenfalls liebevoll ausgestattet. Die Stühle sind paarweise mit Abstand zu den nächsten angeordnet, dazwischen finden kleine Tische Platz. Der Raum fällt zur Bühne hin ab, die Bühnenfläche ist, wie es sich gehört, mit roten Samtvorhängen abgetrennt. Auf der Bühne gibt es sogar eine Drehscheibe. Sicher kann man hier längst nicht jedes Stück spielen, aber die Stücke, die hierhin passen, werden ihren eigenen Zauber haben, das scheint gewiss.

Foto © Robert Hüsch

Am 24. Juni zeigten sich Mona und Kris Köhler mit ihren Töchtern Lina und Elli zum ersten Mal auf der eigenen Bühne. Der kleine Prinz, ein Stück nach dem Roman von Antoine Sainte-Exupèry, sollte ein Erfolg werden, der bis heute anhält. Gern erinnert sich Köhler heute noch daran, wie ihn die Rührung an diesem Abend übermannte. Dass Träume wahr werden, heißt aber nicht, dass danach alles gut wird. Das musste auch die Theaterfamilie erfahren. Und so geriet das eigentlich zur Eröffnung im Januar 2021 geplante Stück Wahrheit 1.5 – Ein Politthriller von Gutmenschen und Schlafschafen immer wieder auf Eis. Am 19. November dieses Jahres endlich konnte es uraufgeführt werden. Und die schönste Szene soll gleich vorweggenommen werden. „Sie scheinen schon älter zu sein“, sagt der Journalist. Die Anwältin will wissen, wie er darauf kommt. „Sie gendern noch“, antwortet der. Das Stück spielt im Jahr 2023. Die Pikanterie der Szene: Das Stück stammt von Stefan Keim. Der ist nicht nur Autor, Schauspieler und Kabarettist, sondern auch Hörfunkjournalist bei einem öffentlich-rechtlichen Sender. Und als solcher schert er sich keinen Deut darum, dass seine Auftraggeber, die Hörer, von ihm eine Sprache erwarten, die sich an den geltenden Regeln orientiert.

Doch nun der Reihe nach. Anwältin Julia will einen Prozess gegen einen Energiekonzern und die Landesregierung anstrengen. Dazu braucht sie Beweise, die ihr ein Mitarbeiter des Heimatmuseums gegen viel Geld im Rahmen einer Videokonferenz liefern soll. Doch bei der Anwahl unterläuft ihr ein Fehler. Sie gerät an einen namensgleichen, erfolglosen Journalisten, der gleich die große Geschichte wittert. Weil er aber keine wirklich guten Verbindungen zu seriösen Medien hat, bringt er seinen Artikel bei einem rechtspopulistischen Online-Magazin unter. Ging es vordem um das Abräumen ganzer Dörfer, wächst sich das Ganze nun zu einem Skandal aus, weil sich Neonazis unter die Demonstranten für den Erhalt von Wäldern und Dörfern mischen. Schließlich wird es grotesk, wenn die Neonazis ein neues Reich ausrufen und sich von Deutschland lossagen. Julia und Philipp raufen sich zusammen, um die Angelegenheit wieder in Ordnung zu bringen, nachdem Philipp in einen seelischen Abgrund des Selbstmitleids gefallen ist. Danach überschlagen sich die Entwicklungen.

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Die Köhlers haben sich eine Menge einfallen lassen, um dem Publikum einen abwechslungsreichen Abend zu bieten. Die Bühne ist „futuristisch“ und raffiniert gestaltet. Im Hintergrund gibt es eine große Leinwand. Auf der Drehscheibe sitzt Kris zunächst mit dem Rücken zum Publikum vor einem überdimensionierten Monitor. Tastatur, Maus und Computer blinken und leuchten, dass es jedem Computerspiele-Fan das Herz höher schlagen lässt. Zusätzlich gibt es noch ein Grafiktablett und Mobiltelefon. Nach der ersten Videokonferenz stellt sich heraus, dass sich auf der Rückseite seines Arbeitsplatzes ein ähnlicher für die Anwältin verbirgt. Ein netter Einfall, der vor allem auch einiges technisches Geschick voraussetzt. Zusätzlich wird authentisches Videomaterial eingespielt, dass das Jüdische Forum für Demokratie und gegen Antisemitismus, das Medienprojekt Wuppertal und das Bündnis „Alle Dörfer bleiben“ zur Verfügung gestellt haben. Bei Radio Wuppertal haben die Theaterleute zusätzlich „Nachrichten“ einsprechen lassen, um sie möglichst echt klingen zu lassen.

Gerade die Vielfalt des Materials schränkt allerdings die Spielmöglichkeiten der beiden Akteure ein. Das nehmen sie bewusst in Kauf, um den Bezug zur Wirklichkeit so drastisch wie möglich darzustellen. In der zweiten Hälfte nimmt das Stück deutlich an Fahrt auf – und lässt den Zuschauer zum Schluss ziemlich ratlos zurück. Trotzdem werden Köhler und Köhler nach fast zwei Stunden stürmisch gefeiert. Und wie es sich für ein Theater dieser Größenordnung gehört, stehen die Darsteller nach der Aufführung zum Gespräch im Café zur Verfügung. Im Januar sind zahlreiche weitere Aufführungen des Politthrillers im K4 Theater für Menschlichkeit zu erleben. Und wer mag, sucht sich einen Termin aus, zu dem es Frühstück oder Kaffee und Kuchen extra gibt.

Michael S. Zerban