O-Ton

Kulturmagazin mit Charakter

Bilder ähnlich der besuchten Aufführung - Foto © Zara Gayk

Aktuelle Aufführungen

Verlorenes Leben

VONA
(Rainer Behr)

Besuch am
20. Mai 2023
(Premiere am 19. Mai 2023)

 

Insel, Wuppertal

Die Berichterstattung der öffentlich-rechtlichen Sendeanstalten in Deutschland zum Angriffskrieg Putins in der Ukraine ist beschämend und diskreditiert den Berufsstand des Journalisten. Anstatt Bilder aus dem Kriegsgebiet – durchaus unter Wahrung ethischer Standards – zu zeigen, sagt jeder „Bericht“ aus und zur Ukraine: Wir streichen dicke Gehälter von unseren Auftraggebern, den deutschen Bürgern, ein, da werden wir uns selbst wohl nicht in Gefahr begeben. Entwicklungen aus dem Kriegsgebiet werden als Drittnachrichten, als Hörensagen, weitergegeben. Schon genüsslich wird Präsident Wolodymyr Selenskyi als Bittsteller gezeigt, obwohl oder gerade weil es derzeit wohl kaum einen Politiker gibt, der sich mehr und besser für sein Land einsetzt. Wer deutsche Nachrichten verfolgt, kommt nicht auf die Idee, dass die Zivilbevölkerung in der Ukraine täglich leidet, ganze Landstriche zerstört werden. Öffentlich-rechtliche Sendeanstalten berichten darüber, was deutsche Politiker unternehmen, um Flüchtlinge aus dem Land zu halten. Sie erzählen nicht davon, was Menschen in höchster Not aus ihrer Heimat treibt. Oder vielleicht wichtiger noch: Wie es den Menschen geht, die ihr Land nicht verlassen können. Weil ihnen das Geld dazu fehlt, sie zu alt sind, um einen Neuanfang zu wagen oder Frauen nicht gehen wollen, weil ihre Männer gerade das Vaterland verteidigen. Wie also ein Gegengewicht gegen diese Desinformation schaffen?

Um dem schiefen Bild entgegenzuwirken, das der öffentlich-rechtliche Rundfunk produziert: Es gibt hier unglaublich viele Bürger, die sich um Flüchtlinge aus der Ukraine allumfassend kümmern. Die demonstrieren nicht gegen die Unterstützung der Ukraine, weil man angeblich nur Frieden ohne Waffen schaffen kann. Die sorgen dafür, dass es für Menschen, die aus dem Kriegsgebiet kommen, eine Zukunft gibt. Die schaffen Hilfsgüter in das Kriegsgebiet. Ganz ohne Öffentlichkeit. Dass der Staat und seine Bürger sich beständig weiter voneinander entfernen, ist diesen Leuten herzlich egal. Für die Bevölkerung in Deutschland sind gerade andere Themen wichtiger als für Politiker und Aktivisten.

Dazu gehört auch das Tanztheater Wuppertal Pina Bausch. Die Kulturarbeiter haben gleich zu Kriegsbeginn dafür gesorgt, dass Tänzerinnen aus der Ukraine nach Wuppertal ausreisen konnten. Sie haben dafür gesorgt, dass die jungen Frauen hier ankommen und künstlerisch weiterarbeiten können. Inzwischen ist daraus eine neue Arbeit entstanden. Ein solches Projekt klingt erst mal nach dem berühmten Tropfen auf den heißen Stein. Wer den heutigen Abend miterleben kann, weiß aber, dass er hier etwas ganz Großes mitbekommt.

Foto © Zara Gayk

Rainer Behr studierte nach einer Ausbildung zum Gymnastiklehrer Tanz an der Folkwang-Universität der Künste, wurde von Pina Bausch als festes Ensemble-Mitglied engagiert und hat sich seither als Choreograf etabliert. Im vergangenen Jahr nahm er sechs Tänzerinnen aus der Ukraine unter seine Fittiche und erarbeitete mit ihnen das Werk Vona. Vona bedeutet im Ukrainischen sie. Gemeint sind sie, die jungen Frauen, die unter dem Krieg zu leiden haben, die Frauen, die Krieg gerade als Alltag erleben und die vielen, die im Krieg kämpfen und überleben müssen. Dieses vona soll in der Choreografie zum Symbolbild für eine Lebenssituation, aber auch zukunftsweisend gemeint sein. Auch die zweite Vorstellung, die an diesem Abend in der Insel, einem privat organisierten Kulturzentrum in Wuppertal, stattfindet, ist auffallend gut besucht.

Die Bühne ist in ihrer Größe beeindruckend. Verschiedene Gegenstände wie Scheinwerfer, Stühle, Tische oder Kleiderständer sind mit weißen Laken verhüllt. Weiß, das steht für Sauberkeit, Unversehrtheit, Unschuld. Es ist also alles in Ordnung, auch wenn der Raum noch düster vor der Tribüne liegt. Behr ist auch, ungewöhnlich genug, bei der zweiten Vorstellung anwesend und lässt es sich nicht nehmen, einzelne Tänzerinnen zu ihren Ausgangspositionen zu geleiten. Das schafft ein Flair der Besonderheit. Stsiapan Hurski ist zuständig für den Klang, der teils von der Festplatte kommt, teils von den Tänzerinnen selbst produziert wird. Fulminant startet er mit Die ewige Wiederkunft des Gleichen von Ottone Pesante. Das hat etwas von einem Gruselfilm, und der Eindruck hält eine ganze Weile vor, während die Tänzerinnen nacheinander die Bühne aus verschiedenen Ecken betreten und die weißen Laken von Möbeln und Accessoires herunterreißen. Die Zeit der Unschuld ist vorbei. Das unterstreichen auch die Klänge von Colin Stetsons Judges.

Nayoung Kim ist für die Kostüme zuständig und legt Wert auf den Alltag. Auf die Normalität, die so abstrus dem Krieg entgegen- und widersteht. Lange, luftige Kleider schaffen Bewegungsfreiheit und sind schnell gewechselt. So gelingt es ihr, die verschiedenen Stimmungen zu unterstreichen. Und sie wechseln schnell. Jeder Tag bringt neue Überraschungen, Ängste, Freuden, bis dahin vollkommen unbekannte Erfahrungen. Mit Titeln wie Dead Souls‘ Day von The Tiger Lillies, U lamentu di Ghjiesu oder Killshot von Ben Frost gelingt es Behr, ein Panoptikum der Stimmungsschwankungen zu entwerfen, ohne eine konkrete Geschichte erzählen zu müssen. Gar ins Reich der Fantasie geht es, wenn orientalische Klänge wie der Beduinentanz von Andrey Vinogradov erklingen.

Foto © Zara Gayk

Die Zuschauer erleben die Gefühlswelt der jungen Frauen, die sich zwischen Alltag, bedrohlichen Situationen und Kindheitserinnerungen bewegen, während die Musik immer wieder neue Wege geht. Kateryna Pogorielova, Iryna Astafieva, Halyna-Oksana Shchupak, Valeriia Potapova und Yeva Silenko begeistern mit intensivem Einsatz, der immer wieder den Subtext hervorkehrt. Dass Tetiana Znamerovska an diesem Abend verletzungsbedingt ausfällt, erfährt immerhin einen kleinen Ausgleich, indem sie als Projektion zu erleben ist. Im ausgewogenen Licht von Gene Messerschmidt und Leon Mucke nehmen die Tänzerinnen raumgreifend von der Bühne Besitz, gestatten in Soli Einblicke in „ihre“ Gefühlswelt, ohne auch nur einen Moment Mitleid erheischen zu wollen.

Am Ende einer intensiv getanzten Stunde haben die Besucher verstanden, welche Gefühle und äußeren Umstände die Ukrainerinnen bewegen. Die Tänzerinnen haben einen Blick in ihre Seele gestattet, die das Elend dieses Krieges erklärt, obwohl sie ihm entronnen sind. Man möchte jede einzelne von ihnen stellvertretend für die Ukrainer in den Arm nehmen, um ihnen Trost zu spenden und Mut für eine bessere Zukunft zuzusprechen. Aber sie würden es nicht wollen. Weil sie selbst die Kraft in sich tragen, ihr Schicksal zu bewältigen. Auch ohne die älteren Arbeiten Behrs zu kennen, ist klar, dass ihm hier mit seinen Tänzerinnen ein außerordentlicher Abend gelungen ist.

Die Begeisterung des Publikums ist groß, und der Sonderapplaus für die ukrainische Fahne, die auf die Bühne getragen wird, ist ein Versprechen. Ein unter die Haut gehender Abend und eine Sternstunde des zeitgenössischen Tanzes. In Wuppertal. Wieder mal.

Michael S. Zerban