O-Ton

Kulturmagazin mit Charakter

Bilder ähnlich der besuchten Aufführung - Foto © Uwe Stratmann

Aktuelle Aufführungen

Das technisch Machbare

THREE TALES
(Beryl Korot, Steve Reich)

Besuch am
8. Juni 2023
(Premiere)

 

Wuppertaler Bühnen, Opernhaus Wuppertal

Kurz vor Premierenbeginn kommt niemand ins Auditorium, da die Eingangstüren verschlossen sind. Stattdessen gibt es die Durchsage, dass sich fünf Minuten vor Beginn eine kleine Tür am hinteren Rand des Foyers öffnen wird. Auch wundern sich viele, dass das Wuppertaler Opernhaus erschreckend schwach besucht ist. Sehr überschaubar sind die Gäste. Als sie aber wenig später hinter in einen engen Gang gelassen werden und sich anschließend am Inspizientenpult vorbei auf der Bühne des Wuppertaler Opernhauses mit geschlossenem Vorhang zum normalen Publikumsbereich befinden, ist klar, dass in diesem beengten Raum nur relativ wenige Personen passen. Man nimmt dort auf weißen Drehstühlen Platz. Die Lokalität passt zur 2002 uraufgeführten Video-Oper Three Tales der Videokünstlerin Beryl Korot und des Komponisten Steve Reich, die Wuppertals scheidender Opernintendant Berthold Schneider zum von Katrin Wittig gestalteten Raum szenisch eingerichtet hat. Mit dieser Produktion begann Schneider im September 2016 seine erste Spielzeit und beschließt mit der neu einstudierten Produktion, womit das damals am Boden liegende Haus sofort überregional wieder positiv auf sich aufmerksam machte, seine Tätigkeit dort.

Bevor es losgeht, gibt es für das neugierige Publikum einen kleinen Unterricht in Sachen rhythmischer Phasenverschiebung, die in Rechs Musik vorkommt. Als Lehrstück dient sein Stück Clapping Music für zwei Spieler, im vorliegenden Fall für zwei Gruppen. Als erste Gruppe ist das Publikum dran, indem es den Grundrhythmus im Zwölfachteltakt klatscht. Da es nicht sofort hundertprozentig klappt, hilft Dirigent Michael Cook mit einer Eselsbrücke: „Wup-pert-tal/Pause/Bar-men/Pause/El-/Pause/ber-feld/Pause“. Jetzt, als man sich in diesem korrekten Rhythmus die beiden Wuppertaler Stadtteile vergegenwärtigt, funktioniert es schnell – geschafft. Eifrig wird geklatscht. Nun gesellen sich Schlagzeugschüler der Bergischen Musikschule als zweite Gruppe mit dem gleichen Muster hinzu, das sie aber nach und nach um eine Achtel verschieben. Andauernd ändern sich so Schwerpunkte. Erst nach 144 Takten klatschen beiden Gruppen wieder im Unisono.

Foto © Uwe Stratmann

Nach diesem kleinen Rhythmuskurs wird es dunkel. In den vier Ecken befinden sich Monitore, auf denen die deutsche Übersetzung des englischen Librettos eingeblendet wird. An der Front hin zum Auditorium befindet sich das Orchesterpodium, auf dem Musiker des Sinfonieorchesters Wuppertal sitzen. Darüber gibt es vor dem heruntergelassenen Vorhang, der sich im Schlussteil hebt, ab dem zweiten Akt eine große Leinwand. Schon im ersten Akt befindet sich eine weitere gegenüber an der Rückwand. Ansonsten stört kein Bühnenbild und keine Requisite die Vorstellung. Und das ist gut so. Denn den Augen soll es einzig um das gehen, was projiziert wird.

Bei Three Tales geht es anhand von drei Beispielen um die Reflektion über die technologische Entwicklung der letzten 100 Jahre, auf die die Menschheit frei nach dem Motto „schneller, höher, weiter“ richtig stolz war und eventuell noch ist. Zur Zeit des so genannten Dritten Reichs war der Zeppelin Hindenburg neben seinem Schwesterschiff das größte jemals gebaute Luftfahrzeug. Rund ein Jahr nach seinem Jungfernflug endete die Landung in Lakehurst in einer Katastrophe, bei der 35 Menschen ums Leben kamen. Diese Zerstörung und das große Leid werden schonungslos unter anderem anhand von originalem Bildmaterial an die Wand geworfen. Dann, nach dem Zweiten Weltkrieg, wurden die Einwohner des Bikini-Atolls im Pazifischen Ozean rücksichtslos umgesiedelt. Der Grund: Für die USA war der Ort der optimale Platz, um en masse Atomwaffen zu testen. Fazit: Seitdem sind die Inseln unbewohnt. Collageartig werden die menschlichen Schicksale der einstigen Bewohner, die Flüge der Bomber über dem Gebiet und die an den Versuchen sich wichtig benehmenden Personen meist in Uniform so beklemmend realistisch vor Augen geführt, als würden die Maßnahmen live gesendet. Hinzu kommt der ständig gegen Null gehende Countdown, der laut tickt. Und Dolly, das geklonte Schaf, ist ja so niedlich. Den dafür verantwortlichen Wissenschaftlern schwillt vor Stolz die Brust, so eine bis dahin undenkbare Kopie von Leben realisiert zu haben. Einhergehend damit werden jedoch nicht wie zuvor Szenarien ähnlich Weltuntergängen vermittelt. Es kommen in Form von Statements und Interviews international angesehene Wissenschaftler mit ihren unterschiedlichen Meinungen zu Wort. Einerseits wird die Forschung am technologischen Fortschritt plus absoluter Bejahung der künstlichen Intelligenz befürwortet. Andererseits werden Zweifel daran laut und digitale Entwicklung dahingehend hinterfragt, ob nicht der Mensch irgendwann dadurch ins Hintertreffen kommt. Außerdem sind wie eine Mahnung, ein roter Faden während des gesamten Verlaufs die Schöpfungsgeschichten präsent, in denen unter anderem der Mensch von Gott in den Garten Eden gesetzt wurde, um diesen zu bebauen und zu behüten.

Foto © Uwe Stratmann

Mittels der perfekten Klangregie von Thomas Dickmeis werden synchron zu dem visuellen Geschehen Klänge aus im Raum verteilten Lautsprechern zugespielt. Unter dem präzisen und umsichtigen Dirigat von Cook mischen sie sich mustergültig mit den Rhythmen der vier Perkussionisten, den hochdramatischen Tönen des Streichquartetts und der beiden Pianisten. Auch die fünf Sänger mit ihren hoch anspruchsvollen, den Ablauf kommentierenden Partien – die Sopranistinnen Nina Koufochristou und Mirjana-Kremshovski sowie die Tenöre Mark Bowman-Hester, Dustin Smailes und Christian Sturm – lassen an Akkuratesse und Beweglichkeit ihrer Stimmen keine Wünsche offen. Musik, Klänge, Gesänge, gesprochene Worte kommen aus allen Ecken der Bühne. Man sitzt mitten drin, wird Teil vom Ganzen. Bewegliche Bilder, die vortrefflich komplex-minimalistisch-dramatische Musik und Sprache gehen eine vortreffliche Symbiose ein.

Die aufgeschlossenen Musikfreunde zeigen sich mit dieser modernen Form des Musiktheaters höchst zufrieden und bedanken sich bei allen an dieser beeindruckenden Produktion beteiligten Personen mit ausgiebigem Beifall. Diejenigen, die nachdenklich das Opernhaus verlassen und sich die Frage stellen, wie es weiter geht mit dem technologischen Fortschritt und ob er nie enden wird, haben Korot und Reich mit ihrem Opus erreicht. Denn darum geht es ihnen. Die Spekulation könnte dahin gehen: Wird es vielleicht in Zukunft Figuren wie Lieutenant Commander Data auf dem Raumschiff Enterprise in den Star-Trek-Filmen wirklich geben? Die synthetische Lebensform mit künstlicher Intelligenz ist ein selbstbewusster, intelligenter, empfindungsfähiger und anatomisch voll funktionsfähiger Android, den Menschen mindesten ebenbürtig.

Hartmut Sassenhausen