O-Ton

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Aktuelle Aufführungen

In Moskau ungelitten

DER TEUFEL SINGT TANGO
(Diverse Komponisten)

Besuch am
24. April 2022
(Einmalige Aufführung)

 

Sinfonieorchester Wuppertal, Historische Stadthalle Wuppertal

Das Programm des dritten Wuppertaler Chorkonzerts stand schon lange fest. Obwohl es sich um Werke sowjetischer Komponisten handelt, bleibt es dabei trotz – oder gerade wegen – des von Russland angezettelten Kriegs gegen die Ukraine. Denn nicht ganz Russland ist schuld an dem großen Drama in Osteuropa, sondern vor allem sein Präsident Wladimir Putin. Vor der Veranstaltung verurteilt Generalmusikdirektor Patrick Hahn auch im Namen der Wuppertaler Bühnen deutlich diese seit rund zwei Monaten existierenden Gräueltaten und bezieht klar Stellung pro Ukraine. Aus Solidarität zu dem Land spielt dementsprechend als Einleitung zu dem eindrucksvollen Abend das Sinfonieorchester Wuppertal unter seiner Leitung eine Orchesterfassung der Hymne Gebet für die Ukraine von Mykola Lysenko aus dem Jahr 1885 sehr andächtig. Anschließend sind drei Raritäten aus dem letzten Jahrhundert im Großen Saal der Historischen Stadthalle Wuppertal zu erleben, die zu Unrecht nur sehr selten auf Konzertprogrammen stehen. Es gibt also für neugierige Freunde der sogenannten ernsten Musik, die keine Scheu vor Klängen jenseits von Dur und Moll haben, einiges zu entdecken.

Unbekannt dürfte vielen der Name Alexander Wassiljewitsch Mossolow sein. Nach gregorianischem Kalender wurde er am 11. August in Kiew geboren und starb am 12. Juli 1973 in Moskau. Er gehörte in den 1920-er Jahren zu den führenden Avantgardisten. Doch ab dem folgenden Jahrzehnt litt er an den Repressalien der Russischen Assoziation Proletarischer Musik, kurz RAPM. Unter anderem wurde er 1937 wegen „konterrevolutionärer Propaganda“ verurteilt und inhaftiert. Seine Werke durften nicht aufgeführt werden. Er verschwand aus dem öffentlichen Musikleben und in der Namenlosigkeit. Von nun an widmete er sich Folklore-Expeditionen und -forschungen, die ihn in entfernte Republiken wie Turkestan, Kirgisien und Stavropol führten. Seine Maschinenmusik Die Eisengießerei aus dem Jahr 1927 spiegelt den Geist des industriellen Zeitalters wider, der überall in die Kunst Einzug hält. Legendär ist etwa der neun Jahre später entstandene Film Modern Times von Charlie Chaplin, in dem unter anderem unter Hochdruck am Fließband gearbeitet wird. Mossolows rund drei Minuten dauerndes Stück verwandelt den Konzertsaal in eine Werkshalle. Kompositorisch kommen traditionelle Formen und Bauprinzipien nicht mehr vor. Stattdessen wird ein Baukastensystem verwendet, in dem musikalische Themen und Motive nicht im Vordergrund stehen. Unveränderliche motorische Einheiten werden geschichtet und gereiht. Diese Handschrift Mossolows ist eine der eigenwilligsten der russischen Avantgarde. Unter Hahns umsichtiger Stabführung intonieren die städtischen Sinfoniker diese gewaltige Industriemusik außerordentlich kraftvoll und fest zupackend. Zwischendurch könnten diese grandiosen Klangausbrüche nur ein klein wenig verhaltener gespielt werden, um die von den Blechbläsern vorgetragenen Fabriksirenen noch besser zum Ausdruck zu bringen.

David Hansen und Iva Bittová – Foto © O-Ton

In aller Munde ist Dmitri Schostakowitsch, aber wohl weniger seiner 5. Sinfonie in d-Moll, op. 47. Auch dieser Zeitgenosse Mossolows hatte es nicht leicht. Anfangs machte sich der Komponist keine großen Sorgen, bis Josef Stalin Anfang des Jahres 1936 eine Aufführung seiner zwei Jahre alten Oper Lady Macbeth von Mzensk besuchte. Der Diktator war entsetzt, weil er sein kulturpolitisches Anliegen, das von „Einfachheit und Volkstümlichkeit“ geprägt war, konterkariert sah. Fortan wurde das Werk öffentlich abgeurteilt, worauf der Komponist als Volksfeind abgestempelt wurde. Zeit seines Lebens litt er unter Todesängsten, hatte große Sorge um Leib und Leben seiner Familie. Doch entgegen Mossolow verschwand er nicht in der Versenkung. Denn man konnte ihn nicht so einfach verschwinden lassen, da er weltweit geehrt und verehrt wurde. Er war musikalisch ein Meister darin, seine Kritik an das totalitäre Sowjetsystem in seinen Werken so zum Ausdruck zu bringen, dass es die Zensur nicht bemerkte. Aber hatte Schostakowitsch diese Tricks bereits bei seiner 5. Sinfonie angewendet, die ein Jahr nachdem er Ungnade fiel, entstand? Vordergründig gibt es ein lautes Nein. Unter anderem werden klassische, verständliche Kompositionstechniken verwendet. Die sowjetischen Kritiker reagierten sehr positiv, versahen die vier Sätze mit einem Programm: Heroische Tragödie – Ausdruck gesunder Lebensfreude – Meditation – Erringen des Sieges. Sie wurde mit Worten hochgejubelt wie „Ruhm unserer Ära, dass sie solche Majestät der Klänge und Gedanken mit beiden Händen über die Welt ausschüttet“. In einem Konzertbuch der ehemaligen DDR wird die Fünfte wie folgt kommentiert: „Schostakowitsch lässt die antagonistischen Kräfte hart aufeinanderprallen und bejaht das aktive, energische Bewusstsein der neuen, sozialistischen Persönlichkeit und die Klarheit der Weltanschauung“. Schaut man aber genauer in die Partitur, ist Schluss mit der realsozialistischen Herrlichkeit. Bereits im ersten Satz mündet das dritte Thema in eine verspielte, friedlich klingende Flötenfloskel. Später wird sie vom Klavier, Blech und Schlagzeug in eine militante Figur umgewandelt frei nach dem Motto, dass friedlichen Worten Befehle folgen. Mit diesem Befehl hat der Komponist das Triothema aus seiner damals aus Angst zurückgezogenen 4. Sinfonie aufgegriffen. Damit klingt die Verzweiflung über den ungleichen Kampf gegen das Totalitäre auch in dieser fünften Symphonie deutlich wieder an. Im zweiten Satz sind es die an Gustav Mahler erinnernden Scherzo-Sätze, die Schostakowitsch für einen polternden Ländler verarbeitet. Auch das Umkippen des tänzerischen Dreivierteltakts in einen unerbittlichen Marschton spricht für sich. Der dritte Satz ist Bekenntnis pur. Erschütterung, Verzweiflung, Desillusion, Tragik, Trauer werden offengelegt. Und in dem scheinbar festlichen Finalmarsch begeben sich verurteilte Freigeister zum Richtplatz, wenn man berücksichtigt, dass sich Schostakowitsch mit den englischen Dichter Robert Burns und seinem Gedicht MacPhersons Abschied beschäftigt hat. Darin wird nämlich erzählt, wie der schottische Pirat MacPherson zu seiner Hinrichtung geht. Er vertonte es zu einem Lied, dessen Hauptmelodie sehr dem Hauptthema des Finalsatzes ähnelt. Also glänzt dieses Opus doch nicht kommunistisch nach Gold. Auch hier legt sich das Orchester mächtig ins Zeug, spielt mit großen musikalischen Spannungsbögen auf. Das persönliche Bekenntnis im dritten Satz wird klar herausgearbeitet. Auch die anderen Abschnitte klingen sehr ausgewogen, auch wenn die oben erwähnten Finessen etwas klarer akzentuiert werden können.

Kurt Rydl – Foto © O-Ton

Alfred Schnittke erging es besser, aber auch er war für die Mächtigen in Moskau ein unbequemer Zeitgenosse. Seine Faust-Kantate Seid nüchtern und wachet wurde zwar 1983 in Wien problemlos uraufgeführt. Doch die frenetisch gefeierte Aufführung ein paar Monate später im ausverkauften Moskauer Konservatorium verlief nicht reibungslos. Denn die Konzertprogramme mit dem abgedruckten Text durften nicht verkauft werden und wurden vom Kulturministerium eingezogen. Gestört haben die Stellen mit religiösem Inhalt. Man wollte dafür Sorge tragen, dass die Zuhörer nicht „verführt“ werden. Das Werk ist ein rund 35-minütiger, lustvoller Horrortrip, in dessen Verlauf sich viel Dunkles, Abgründiges auftut. Außergewöhnliche Klangmischungen drücken das Grauen von Fausts Verdammnis farbenfroh aus. Realisiert wird das Schaurige beispielsweise durch Glissandi der Streicher, Glockenklänge, einen anstößigen Tango und bewusst eingesetzte schiefe Töne, also Dissonanzen. Seine mit Polystilistik bezeichnete Tonsprache führt er hier zur Meisterschaft, indem heterogene Materialien und Stile konfrontiert werden. Tonalität und Atonalität, Tango und Passacaglia, liturgische Formeln oder Banales und Artifizielles werden gegeneinandergesetzt, bedingen aber auch durch Konstruktion. Schnittke sucht nach Gemeinsamkeiten des Verschiedenen. Vertrautes wird verfremdet, Klangschichten werden übereinander, aber auch hintereinander gelegt. Ungewöhnlich ist bis auf den erzählenden Tenor die Besetzung der Protagonisten. Faust verfügt über eine Bassstimme und Mephisto wird von einem Countertenor und einem Kontraalt dargestellt. Hahn lotst das Orchester umsichtig durch die vertrackte Partitur mit unter anderem vielen Taktwechseln und mehrfach geteilten Streichern. So kommen die zehn nahtlos ineinander übergehenden Teile ausgewogen und nuanciert von der Bühne.

Doch es wird zu wenig auf die in allen Stimmlagen sicheren, tragfähigen und ausdrucksstarken Gesangssolisten geachtet. Tenor Norbert Ernst und Bass Kurt Rydl loten ihre Partien sehr tief aus, müssen aber viel Kraft aufwenden, um sich gegenüber dem Orchester durchzusetzen. Countertenor David Hansen und Kontraalt Iva Bittová stehen diesen Qualitäten in nichts nach, werden aber dynamisch ab dem Forte aufwärts von den Instrumentalklängen überstimmt. Auch die beiden stimmgewaltigen Chöre, der Opernchor der Wuppertaler Bühnen und der Kammerchor Amici del canto werden vom Orchestertutti übertönt. Dessen ungeachtet zeigen sie sich, von ihren Leitern Ulrich Zippelius und Dennis Hansel-Dinar vortrefflich präpariert, bestens disponiert. Es mangelt also an einem mitatmenden Dirigat, das Dynamiken nicht sensibel genug ausbalanciert. Dennoch bekommt diese Musik, die im Zentrum des Abends steht, qua ihrer außergewöhnlichen Tonsprache einen großen Zuspruch seitens der Zuhörer. Und Bittová wird zu Recht gesondert gefeiert dank ihrer ergreifenden und anrührenden Solozugabe: das Lied Chodila po roli aus der Feder des tschechischen Komponisten Otmar Másha, der von 1922 bis 2006 lebte.

Langanhaltende, stehende Ovationen sind der verdiente Dank für die Präsentation selten aufgeführter russischer Musik, vom Orchester gemeinsam mit Studierenden der Hochschule für Musik und Tanz Köln sowie den beiden Chören und den vier Sängern bestmöglich vorgestellt. Ein fader Beigeschmack bleibt wegen des überschaubaren Publikums. Es ist noch nicht lange her, als städtische Chorkonzerte ein Garant für ein ausverkauftes Haus waren. Ungeachtet Corona und der in diesem Fall neueren Musik als Programm scheint sich an der seit Menschengedenken existierenden Tradition in der Stadt etwas zu ändern. Denn es war immer en vogue, dass der Chor der Konzertgesellschaft und der Konzertchor der Stadt mit ihren zig Fans für vier Konzerte verantwortlich zeichneten. Dazu gehörte selbstredend die Veranstaltung am Karfreitag, die in diesem Jahr nicht stattfand.

Hartmut Sassenhausen