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NEUNTE SINFONIE
(Gustav Mahler)
Besuch am
15. November 2021
(Wiederholung vom 14. November 2021)
Das letzte von Gustav Mahler vollendete Opus ist seine 9. Sinfonie. Sie ist außerdem sein Meisterwerk, das Ketten sprengt, richtungweisend war. Für Arnold Schönberg und Alban Berg war sie der Anstoß, die Atonalität hoffähig zu machen, die die Wiener Schule in die Zwölftonmusik münden ließ.
Einiges irritiert auf den ersten Blick. Zum einen ist die Reihenfolge mit zwei schnellen Scherzi, umrahmt von zwei langsamen Ecksätzen neu. Zum anderen ist der harmonische Zusammenhang aufgehoben. Es gibt keinen Grundton mehr. D-Dur, C-Dur, a-Moll und Des- Dur als Grundtonarten der vier Abschnitte stehen für sich allein. Auch eine Sonatenhauptsatzform fehlt. Trotz eines großen Orchesterapparats ist die Orchestrierung mager. Ungewohnt kühl, distanziert, herb sind oft die Klänge. Statt Melodien werden häufig Motive collagiert. Formale Prinzipien treten in den Hintergrund. Die Polyphonie ist freigehalten. Kurzum: Der spätromantische Duktus befindet sich in Auflösung.
Als der Komponist vom Sommer 1909 bis Anfang April1910 die Sinfonie schrieb, wusste er um sein unheilbares Herzleiden. Zwei Jahre zuvor starb seine fünfjährige Tochter Maria Anna an Diphterie, worauf die Ehe mit seiner Frau Alma in die Brüche ging. Diese Ereignisse fließen mit in die Arbeit an seinem musikalischen Vermächtnis ein. So tun sich in der Neunten Abgründe der menschlichen Seele auf, die musikalisch durch brutale Brüche, misstönende Klangfarben wie herzzerreißende, leidvolle Gesänge zum Ausdruck kommen. Es erklärt aber nicht alles, was sie so bedeutsam macht. Mysterien sind bis heute die Bedeutung einiger Zitate aus eigenen und fremden Kompositionen. Etwa kommen in allen vier Sätzen Motive aus seinen Kindertotenliedern und aus Ludwig van Beethovens Klaviersonate Les Adieux vor. Viele Musiker interpretieren sie als Milde des Todes im ersten, sein Schrecken im zweiten, im dritten ein Rückblick aufs Leben und im vierten Satz als ein endloses Abschiednehmen. Oder als ein Rückblick auf seine Jugend werden drei Zitate in variierter Form aus dem Walzer Freuet euch des Lebens von Johann Strauss Sohn gedeutet. Dieses Stück ist der Gesellschaft der Musikfreunde gewidmet und wurde 1870 für den Eröffnungsball des neuen „Goldenen Saals” komponiert. In dem Gebäude war auch das Konservatorium der Gesellschaft untergebracht, an dem Mahler von 1875 bis 1878 Klavier und Komposition studierte. „O Jugendzeit! Entschwundene! O Liebe! Verwehte!” schrieb Mahler zusätzlich in die Partitur. Die Aufzeichnung wird als bittersüße Erinnerung an die Studienjahre, an die entschwundene Jugend ausgelegt. Und, und, und: Es gibt noch viele weitere musikalische Zitate.
Carl St. Clair – Foto © O-Ton
Die Partitur dieses äußerst komplexen und von Mythen umrankten Werks hat der US-amerikanische Dirigent Carl St. Clair mit im Gepäck, als er nach rund vier Jahren wieder nach Wuppertal reist, um es mit dem Sinfonieorchester Wuppertal in der guten Stube der Stadt, im Großen Saal der Historischen Stadthalle aufzuführen. Mehrfach war er dort ein gern gesehener Gastdirigent, sorgte er doch stets für erstklassige Konzerte. Nicht wenige wünschten ihn sich sogar einmal als Generalmusikdirektor. Doch es kam anders. Stattdessen war er in Deutschland Generalmusikdirektor am Deutschen Nationaltheater und der Staatskapelle Weimar sowie an der Komischen Oper in Berlin. Dann zog es ihn wieder in seine Heimat, wo er Musikdirektor des Pacific Symphony Orchestra ist. Nach wie vor ist er Gast unter anderem bei den Sinfonieorchestern sämtlicher Rundfunkanstalten.
Auch dieses Mal macht St. Clair seinem guten Ruf alle Ehre. Tief ausgelotet und nuanciert kommt die Abschiedssinfonie von der Bühne. Während der Dauer von rund 90 Minuten, angefangen von den wie aus dem Nichts kommenden Cello- und Harfentönen bis hin zu den ersterbenden Streicherklängen am Schluss. Fast jeder Einsatz stimmt. Jeder Orchestersolist glänzt mit einer feinen, runden Tongebung. Fein aufeinander abgestuft sind die Orchestergruppen. Exzellent werden die Dynamiken vom leisesten Piano bis zum gewaltigen Forte herausgearbeitet. So ist selbst jedes kleinste Detail des Notentextes deutlich hörbar. Außerdem scheint man sich die Aussage Schönbergs über dieses Werk zu Herzen genommen zu haben: „In ihr spricht der Autor kaum mehr als Subjekt. … Dieses Werk ist nicht mehr im Ich-Ton gehalten:“ Denn persönliche, emotionale Befindlichkeiten spielen keine Rolle. Die Wiedergabe des reinen Notentexts steht klar im Vordergrund.
Hochdramatisch erklingen die andauernden Stürze der Musik von höchster Erregung in die unermessliche Tiefe im Eröffnungssatz mit seinem Changieren zwischen lyrischen und düsteren Momenten. Grotesk, schaurig-verzerrt, grell unheimlich kommt das sich anschließende Scherzo daher. Adäquat grimmig, verbissen, wird die Burleske gestaltet, wobei die bis zur Atonalität entwickelten Dissonanzen klar herausgearbeitet werden. Traumhaft schön intonieren die Streicher den feierlichen Anfangschoral des Finalsatzes. Nach einer letzten Steigerung hin zur kolossalen Expressivität lässt das Orchester unter St. Clairs präzisen und packenden Anweisungen hochsensibel immer leiser werdend friedlich mit einem großen, langen Atem ausklingen.
Eigentlich ist ein Schlussapplaus nach dieser denkwürdigen Sinfonie nicht angebracht, gerade wenn sie wie an diesem Abend wie aus einem Guss aufgeführt wird. Die Zuhörer verstehen es nach dem leisen Ausklingen der Musik im Nichts, zumal St. Clair und die Orchestermusiker sich ehrfurchtsvoll für knapp eine Minute nicht rühren. Erst danach hebt allmählich der Beifall an, der in stehende, doch aufgrund des zuvor erlebten in nicht überschwängliche Ovationen mündet.
Hartmut Sassenhausen