O-Ton

Kulturmagazin mit Charakter

Foto © Peter Wieler

Aktuelle Aufführungen

Pianistische Virtuosität und orchestrale Musikalität

LUCAS UND ARTHUR JUSSEN
(Felix Mendelssohn Bartholdy, Sergei Prokofjew)

Besuch am
13. Mai 2023
(Einmalige Aufführung)

 

Klavier-Festival Ruhr, Historische Stadthalle Wuppertal

Die Brüder Lucas und Arthus Jussen aus den Niederlanden – geboren am 27. Februar 1993 und 28. September 1996 – werden trotz oder wegen ihres recht jungen Alters allerorts qua ihrer pianistischen Qualitäten hochgejubelt. „Es ist, als würde man zwei BMW gleichzeitig fahren“, sagt Dirigent Michael Schønwandt über die beiden. Deswegen sorgen sie im Konzertleben für Furore. Überall werden sie herumgereicht. So kommt das Duo mittlerweile zum fünften Mal zum Klavier-Festival Ruhr, in diesem Zusammenhang zum zweiten Mal nach Wuppertal in den bis auf wenige Sitze ausverkauften Großen Saal der Historischen Stadthalle.

Vielleicht sind es keine Nobelkarossen aus Bayern, sondern zwei Formel-1-Rennwagen, die an diesem Abend zu erleben sind. Jugendlich-draufgängerisch, als können sie es nicht abwarten, loszulegen, erscheinen die Jussens auf der Bühne. Ein klein wenig müssen sie sich aber noch gedulden, bis sich das WDR-Sinfonieorchester auf den Kammerton der Flügel eingestimmt hat. Dann aber legen sie sich mächtig ins Zeug und wirbeln mit ihren 20 Fingern über die beiden Klaviaturen, dass einem schwindelig werden könnte. Die wieselflinken 32-stel-Läufe, rasend schnellen Akkordbrechungen und Begleitfiguren perlen lupenrein, sei es allein, direkt nacheinander oder im Unisono. Diese über weite Strecken hochgradig schweren Klavierpassagen in Feix Mendelssohn Bartholdys Konzert für zwei Klaviere und Orchester in E-Dur kommen völlig unverkrampft, wie spielerisch leicht vorgetragen daher, als seien sie nicht mehr als schlichte Fingerübungen. Das Publikum ist ganz aus dem Häuschen, huldigt sofort nach dem letzten Ton den Jussens mit nicht enden wollenden, stehenden Ovationen. Als Dank setzten sie sogar noch eins drauf. Für Tastenlöwen hat der 1969 in Baden in der Schweiz geborene Pianist Igor Roma Strausseinander komponiert, eine Paraphrase über die Operette Die Fledermaus für zwei Klaviere aus der Feder von Johann Strauss. Denn hierbei handelt es sich um ein reines Virtuosenstück erster Güte. Erst recht entfachen hier die Brüder ein wahres tastenakrobatisches Feuerwerk. Kein Wunder, dass die Zuhörer darauf genauso reagieren wie zuvor. Fazit: Hinsichtlich atemberaubend-perfekter Virtuosität auch im Zusammenspiel macht dem Klavierduo Jussen so schnell wohl kaum jemand etwas vor.

Doch leider lässt an diesem Abend beim Doppelkonzert die Musikalität der pianistischen Technik den Vortritt. Mendelssohn Bartholdy schuf dieses Werk im Alter von vierzehn Jahren für sich und seine Schwester Fanny, die wie er grandios mit dem Klavier umgehen konnte. Er schenkte es ihr höchstwahrscheinlich zum Geburtstag. Dreizehn Jahre nach seinem Tod wurde es noch einmal aufgeführt. Danach verschwand es für rund 100 Jahre in der Versenkung. Anfang der 1950-er Jahre kam dann im Rahmen von Bücherschmuggelgeschäften zwischen Ost- und Westberlin eine Mikrofilmaufnahme dieses und des anderen Doppelkonzerts nach New York. Seitdem wird das Werk wieder gerne gespielt. Vieles steckt in dem E-Dur-Werk. Zum einen sind die Einflüsse von Johann Sebastian Bach, Wolfgang Amadeus Mozart, Ludwig van Beethoven, Carl Maria von Weber, Johann Nepomuk Hummel und Ignaz Moscheles unverkennbar. Dann ist es reich an melodischen Einfällen. Große tonsatztechnische Handwerkskunst wird außerdem deutlich wie verschachtelte Fugatos, mehrstimmige Engführungen oder sehr komplexe Verarbeitung von Themen. Auch die technische Brillanz ist gerade in den Ecksätzen bewusst hineinkomponiert. Sie steht bei dieser Aufführung weit mehr im Vordergrund als die anderen erwähnten Feinheiten. Auch der Kontrast zwischen den schwärmerischen Zügen des einen Klavierparts zu dem wesentlich zupackenderen Charakter des anderen im Binnensatz könnte deutlicher herausgearbeitet werden.

Foto © Peter Wieler

Dessen ungeachtet ist das WDR-Sinfonieorchester unter der im gesamten Verlauf des Konzerts umsichtigen, präzisen und allzeit verlässlichen Leitung von Krzysztof Urbański sehr aufmerksamer Begleiter. Dank seiner sensibel dosierten Dynamiken sorgt es dafür, dass selbst im lauten Tutti die Klavierklänge stets im Vordergrund stehen. Mit schönen runden, fein abgestuften Klängen gestaltet es zuvor den Elfentanz, Rüpeltanz oder die königlichen Jagdfanfaren in Mendelssohn Bartholdys populärer Ouvertüre Ein Sommernachtstraum, opus 21.

Die drei Suiten Romeo und Julia mit den Opuszahlen 64a, 64b und 101 gehören mit zu Sergei Prokofjews wirkungsvollsten Orchesterwerken. Gerade die ersten beiden sind sehr beliebt. Sind sie dramaturgisch stringent aufgebaut, wirkt die dritte wie ein sanfter Nachklang. Sehr geschickt hat der Komponist die in seinem gleichnamigen Ballett verwendete Musik auf knappe Sätze konzentriert. Sie widerspiegeln nicht den Ablauf des groß angelegten Tanzstücks wider, sondern sind eine musikalische Verdichtung ohne direkte programmatische Tendenz. Die Handlung ist also hier sehr verallgemeinert, dafür emotional vertieft. Zwölf Stücke daraus hat Urbański zu einer neuen, schlüssigen Suite zusammengestellt, die mit Die Montagues und die Capulets beginnt und Julias Tod endet und die Länge einer normalen Konzerthälfte einnimmt. Gerade bei dieser Aufführung wird das Orchester aus Köln seinem über die Landesgrenzen hinaus bekannten, hervorragenden Ruf voll gerecht. Wie ein einziges Instrument klingen die einzelnen Orchestergruppen, die fein aufeinander abgestimmt sind. Die den Abschnitten innewohnenden, reichhaltigen, nuancierten Klangbilder intonieren sie ausnehmend ausgewogen und ergreifend. So kann man tief eintauchen in ein Wechselbad der Gefühle von himmelhochjauchzend bis abgrundtief betrübt, von tänzerisch frohlockend bis kontemplativ ruhig.

Auch diese, in diesem Fall hochmusikalische Darbietung wird vom Publikum begeistert aufgenommen. Wieder gibt es zu Recht stehende Ovationen, die erst dann enden, als sich die Sinfoniker zum Abschied die Hand geben.

Hartmut Sassenhausen