O-Ton

Kulturmagazin mit Charakter

Foto © Karl-Heinz Krauskopf

Aktuelle Aufführungen

Modern Jazz par excellence

LOUIS SCLAVIS
(Louis Sclavis)

Besuch am
23. September 2022
(Einmalige Aufführung)

 

Multiphonics-Festival, Skulpturenpark Waldfrieden, Wuppertal

Natürlich ist Jazzklarinettist Louis Sclavis kein Unbekannter in Wuppertal. Denn schon einmal, am 31. Mai 2013, ist er gemeinsam mit der Pianistin Aki Takase im Skulpturenpark Waldfrieden aufgetreten. Damals Open Air, spielt er nun in der unteren von insgesamt drei gläsernen Ausstellungshallen. Zu dem etwa 15 Hektar großen Anwesen, das einst Wohnsitz des 1989 verstorbenen Lackfabrikanten Kurz Herberts war, geht es auf einer engen Serpentinenstraße hinauf. 2006 erwarb es der in Wuppertal lebende und wirkende Künstler Tony Cragg und schuf auf dem Gelände den berühmten Skulpturenpark, in dem sich als Dauerausstellung Plastiken von ihm und anderen modernen Bildhauern wie Richard Deacons, Wilhelm Mundts, Eva Hilds und die Natur eine Symbiose eingehen. Von der idyllischen Atmosphäre dieser weitläufigen, waldreichen Parkanlage oberhalb des Wohnquartiers Hesselnberg im Stadtteil Unterbarmen, zu der die unter Denkmalschutz stehende Villa Waldfrieden gehört, lassen sich immer wieder Musiker beeinflussen und inspirieren. Denn gerade der Jazz, die zeitgenössische klassische Musik und die Weltmusik haben dort auch einen hohen Stellenwert.

Jetzt ist Sclavis wieder da im Rahmen des Festivals Multiphonics. Es wurde 2013 ins Leben gerufen und hat sich von Köln ausgehend seitdem als internationales Jazz- und Weltmusik-Festival in Nordrhein-Westfalen etabliert. Der Schwerpunkt der Reihe liegt auf der Familie der Klarinetteninstrumente. Große Meister an diesen Holzblasinstrumenten können regelmäßig verpflichtet werden. Selbstredend passt Sclavis in diesen Rahmen, zählt er doch mit zur Crème de la Crème der Klarinetten- und Bassklarinettenspieler weltweit.

Foto © Karl-Heinz Krauskopf

Im Gepäck hat er sein Projekt Charakters on a Wall. Die Veröffentlichung des gleichnamigen Albums im Oktober 2019 erregte wegen der darauf dokumentierten ungewöhnlichen Klangbilder großes Aufsehen. Inspirieren ließ er sich von Mauerbildern des 1942 geborenen französischen Künstlers Ernest Pignon-Ernest. Er machte sich einen Namen mit seinen Figurenzeichnungen, unautorisiert angebracht an öffentlichen Orten in Städten von Paris über Neapel bis Ramallah. Unter anderem ließ sich Sclavis von Pignon-Ernests Zeichnung des Filmemachers Pier Paolo Pasolini an einer Mauer in Rom faszinieren. Oder Gefangene stehen unter Stacheldraht hinter Gittern. Ein Mann ist auf eine Betonmauer gemalt, die in Israel Welten trennt. Oder unter dem Schatten eines Baums befindet sich eine alte Frau an einer verwitterten Wand. Deren visuelle und emotionale Ausdrücke fasste er auf seine Art in Töne, die streckenweise zu dem Stil „imaginäre Folklore“ passen. Zuerst geprägt von Béla Bartók, machte sie die französische Musikerinitiative ARFI – die Abkürzung für Associaton à la Recherche d’un Folklore Imaginaire – im Modern Jazz hoffähig. Sie besteht aus drei Gruppen. Einer von ihnen, Le Workshop de Lyon, gehörte Sclavis von 1975 bis 1983 an. „Die Improvisation ist die Tradition einer spielerischen Organisation der Klänge; ein Instrument spielen; mit dem Instrument spielen; mit der Erinnerung an Klänge spielen, die im Augenblick zuvor produziert werden; mit anderen Musikern spielen; in einer komplexen Verbindung mit dem Hörer, dem Zuschauer, mit der Stimme und mit dem Instrument spielen; emotionale Zusammenhänge herstellen, eine neue Folklore schaffen“, beschreibt die ARFI ihre bis heute wegweisende Haltung.

Foto © Karl-Heinz Krauskopf

Diese Merkmale kommen an diesem Abend anhand von fünf Titeln wie Darwich dans la ville, L’heure Pasolini und Prison plus einer kurzen Zugabe mustergültig zum Tragen. Sorgfältig sind sie komponiert und durchstrukturiert. Jenseits tradierter Jazzstile, mit Ausnahme der Vorstellung von Themen, ist die tonale Grenzen sprengende Musiksprache von Sclavis und seinen drei Bandmitgliedern außerordentlich intensiv und dicht, selbst in sehr leisen, filigranen Passagen. Kongenial verstehen sich die vier Musiker. Blindes Verständnis füreinander, wovon beispielsweise perfekt gespielte hochkomplexe Unisoni zeugen, faszinieren. Das Quartett lässt an Homogenität keine Wünsche offen. Sämtliche musikalische Gefühlswelten von himmelhochjauchzend bis zu Tode betrübt werden packend offen gelegt. Auch eine ganz tonale Träumerei ist dabei, die an den Impressionismus von Claude Debussy gemahnt.

Dabei entlockt Sclavis Klarinette und Bassklarinette ein ungemein facettenreiches Spektrum an Klangfarben. Mal ruhig-versonnen warm, dann wiederum eruptiv einhergehend mit schrill-überblasenen Tönen demonstriert er während seiner Soli vom weichen Pianissimo bis zum markigen Fortissimo seine große hochvirtuose Klasse. Diesen hohen Qualitäten steht Pianist Benjamin Moussay in nichts nach. Beispielsweise steigert er minimalistische, über der gesamten Tastatur zart-getupfte Töne hin zu wieselflinken Tonketten und Akkordkaskaden. Frederic Chiffoleau geht sehr feinfühlig mit seinem Kontrabass um, kann aber auch meisterhaft aus den F-Löchern groovig-pulsierende wie energisch-schnelle Töne hervorzaubern. Und Christophe Lavergne geht mit dem Drumset, abgesehen von einer kleinen Passage in seinem großen, hochbrillanten Solo, nicht wie mit einem normalen Schlagzeug um. Für ihn ist es ein klangvolles Instrument, das für reiches Spektrum an sensibel-perkussiven Geräuschen und tönenden Stimmungsbildern zuständig ist.

Sehr zahlreich sind die Musikfreunde erschienen und hören gebannt zu. Nach jeder Nummer zeigen sie sich begeistert. Der nicht enden wollende Schlussapplaus verebbt erst dann nach der Zugabe, als Sclavis freundlich zum endgültigen Abschied winkt.

Hartmut Sassenhausen