Kulturmagazin mit Charakter
Aktuelle Aufführungen
LIEBLINGSLIEDER
(Diverse Komponisten)
Besuch am
6. Juni 2020
(Livestream)
Als der Shutdown kam, war eine der ersten Fragen, die Journalisten den Politikern stellten: Wie ist es um die Kapazität des Internets bestellt? Beruhigt nahmen alle zur Kenntnis, dass es da überhaupt keine Schwierigkeiten gäbe. Das hätten auch die Netzbetreiber bestätigt. Das war in einer Phase, als die überwältigende Mehrheit der Bevölkerung der Regierung das Vertrauen entgegenbrachte, sich in so etwas Ähnliches wie Quarantäne zurückzuziehen, na ja, zumindest mehr zu Hause zu bleiben als gewöhnlich. Das Vertrauen in die Politiker schwindet in diesen Tagen mehr und mehr. Zu inkonsistent sind die Entscheidungen längst geworden. Sänger halten auf der Bühne mehr als sechs Meter Abstand, während in den Flugzeugen, die bekanntlich am ehesten dafür sorgen, dass sich ein Virus schnellstmöglich auf der Erdkugel verbreitet, Menschen dichtgedrängt sitzen. Und neuerdings muss die Empfehlung für Theaterleute heißen, in den Bordellen dieser Republik zu proben. Denn die sind jetzt wieder geöffnet. Ähnlich verhält es sich mit den Ressourcen im Internet. Kaum ein Livestream scheint derzeit noch bis zum Ende durchzuhalten. Wenn mehr als eine halbe Stunde angesetzt ist, ist der Crash schon vorprogrammiert. Dabei hat das Video-Portal YouTube bereits Restriktionen verhängt, die Kleinanbietern – und in diesem Fall besonders betroffen: Solo-Künstler – den Livestream verbietet. Allein das schon ausgesprochen diskussionswürdig.
Stößels Komödie Wuppertal hat in dieser Hinsicht eigentlich alles richtig gemacht. Von Anfang an haben die Theaterleute auf das Internet gesetzt, Lesungen veranstaltet, Clips gedreht, eine erste Gala veranstaltet. Und sich so das „Recht erworben“, auf YouTube Livestreams veranstalten „zu dürfen“. Damit waren also alle Voraussetzungen geschaffen, auf der Videoplattform eine Gala im Livestream zeigen zu können, mit der sogar Geld verdient werden konnte.
Foto © O-Ton
Kristof Stößel hatte im Mai bereits anschaulich aufgezeigt, dass sein Theater am Karlsmarkt in Wuppertal nicht ansatzweise in der Lage sein könne, die „strengen Auflagen“ für die Kulturbetriebe einzuhalten. Völlig illusorisch, unter solchen Bedingungen ein Privattheater zu führen, das auf Einnahmen angewiesen ist. Die Hoffnung auf städtische Unterstützung hat Stößel längst aufgegeben. Nicht aber die Gewissheit, dass sich die Kulturinstitutionen in der Stadt gegenseitig helfen.
1869 wurde die Immanuelskirche im Wuppertaler Stadtteil Barmen geweiht. 1984 wurde sie in ein Kulturzentrum umgewandelt. 2020 bietet sie genügend Platz, um Hygiene-Auflagen verschiedenster Veranstaltungen zu genügen. Und so hat Stößel für die kommenden Monate der Ungewissheit und – ja – Drangsal hier einen Aufführungsort gefunden, um seine Anhängerschar mit Aufführungen zu versorgen. Die erste Veranstaltung vor Ort ist allerdings noch einer digitalen Aufführung gewidmet, ehe dann auch Aufführungen mit Publikum geplant sind. Der Freundeskreis der Immanuelskirche hat hier einen eindrucksvollen Ort kultureller Begegnung geschaffen, der mit einer vergleichsweise großen Bühne Spaß auf Veranstaltungen jeglicher Art macht. Sogar Parkplätze sind für auswärtige Gäste in einer zunehmend autofeindlichen Gesellschaft vorgesehen. Und so kann man sich entspannt auf die Aufführung des heutigen Abends freuen.
Best of Stößels Komödie – Lieblingslieder! heißt das geplante Geschehen etwas plakativ. Stößel hat sein Ensemble und Gäste zu einer umfangreichen Gala eingeladen, bei der er selbst als Fabienne van Straten auftritt. Ihm zur Seite steht Dirk Stasikowski als „Assistent“, der den Live-Chat bei YouTube verfolgt und betreut. Mit 22 Titeln und den dazugehörigen Moderationen scheint ein recht zeitaufwändiges Programm bevorzustehen, das höchst professionell präsentiert wird. Gleich drei Techniker bereit, sich um eine einwandfreie Übertragung zu kümmern. Und schwungvoll geht es los mit Im Wagen vor mir, dem Erfolgsschlager von Hans Blum. Doch schon, als Teresa Stößel S’il suffisait d’aimer – Wenn es ausreichte zu lieben – anstimmt, setzt der Ton in der Live-Übertragung bei YouTube aus. Noch lassen sich die Beteiligten nicht viel anmerken, warten geduldig, bis die Technik das Signal zur Fortsetzung gibt. Teresa wiederholt ihr Lied, ehe Michèle Connah sie mit einer komödiantischen Nummer ablöst. Herrlich verkleidet, erinnert sie Fabienne an das „Versprechen“, sie auch besetzen zu wollen. Und schon schmettert Sabine Reinhardt einen Rap ins Mikrofon. Das geht alles rasant und schwungvoll über die Bühne. Fabienne moderiert mit viel Wortwitz, während Stasikowski weiter Wasserstandsmeldungen aus dem Chat in den Raum wirft. Im Vorfeld hatten sich die Zuschauer Lieder wünschen können, und so erklingt als nächste Nummer Für mich soll’s rote Rosen regnen. Auf die Uhr schaut kaum einer. Zum einen scheint die Zeit zu verfliegen, zum andern ist jeder Zeitplan seit der Tonstörung ohnehin hinfällig.
Foto © O-Ton
Drei Nummern weiter, es ist halb zehn, kommt das Knockout. Bild- und Tonausfall. Die Techniker rufen die Meldung in den Raum, die sie bei YouTube gefunden haben: Störung im Großraum Wuppertal.
Zeit für eine Krisensitzung. Die Zuschauer bekommen schon mal die Zwischenmeldung, dass eine Störung vorliege. Dann trommelt Stößel das Ensemble vor der Bühne zusammen, das sich bislang gleichmäßig im Raum verteilt hatte. Nach kurzer Diskussion fällt die Entscheidung. Einmal mehr ein Abbruch, weil die Videoplattform den Livestream nicht geschafft hat. Ein Ereignis, das sich in letzter Zeit häuft. Das bewirkt aber jedes Mal nicht nur Ärger und Enttäuschung bei den Beteiligten, sondern vor allem einen Haufen Mehraufwand und erheblichen Zeitstress. So auch in der Immanuelskirche. Für mehr als ein Dutzend Künstler und Akteure muss binnen Kürzestem ein neuer gemeinsamer Termin gefunden werden, der auch in der Spielstätte verwirklichbar sein muss. Die Aufzeichnung der gesamten Show steht bevor, ehe sie dann vollständig und ohne Fehler auf die Plattform hochgeladen werden kann. Das Ganze muss zeitnah geschehen, damit der Ärger bei den zahlenden Gästen nicht noch größer wird. Gerade Stößels Komödie Wuppertal baut auf eine große Zahl von Stammbesuchern. Da will man nun wirklich niemanden vergrätzen.
Man kann den Livestream derzeit nicht empfehlen, um künstlerische Formate im Internet anzubieten. Die technische Anfälligkeit ist, vermutlich auch der Langsamkeit des deutschen Netzes geschuldet, einfach zu groß. Zudem kann der Zuschauer nicht erkennen, an wem der Fehler liegt, so dass auch noch Gefahr besteht, dass technische Pannen auf den Veranstalter zurückfallen.
Etwas Positives hat der Abend dennoch. Er hat gezeigt, dass die Zuschauer sich auf die Ausweichspielstätte des Kulturzentrums Immanuel freuen dürfen, wenn am 19. Juni Stößels Komödie Wuppertal ihre Arbeit dort aufnimmt. Es gibt genügend Platz für Publikum, die Beschallung ist hervorragend und Dirk Stasikowski eröffnet mit einer Hommage an Udo Jürgens.
Michael S. Zerban