O-Ton

Kulturmagazin mit Charakter

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Aktuelle Aufführungen

Bestes modernes Musiktheater

INTOLLERANZA 2022
(Luigi Nono)

Besuch am
22. Oktober 2022
(Premiere)

 

Wuppertaler Bühnen, Opernhaus Wuppertal

Nachdem Luigi Nono vor 62 Jahren die letzte Note der „szenischen Handlung in zwei Teilen“ zu Papier gebracht hatte, war mit dem auf den Namen Intolleranza 1960 getauften Stück eine Abwendung vom althergebrachten Musiktheater vollzogen. Es zählt heute zu den Klassikern der Moderne, steht aber wegen der hohen Anforderungen an Musiker, Sänger und Publikum nur hin und wieder auf dem Spielplan. In Wuppertal hat man sich dieses Opus ausgesucht, um damit den 200. Geburtstag seines berühmten Sohns Friedrich Engels zu feiern, mit Karl Marx der einflussreichste Theoretiker von Sozialismus und Kommunismus. Doch Corona machte einen großen Strich durch die Rechnung. Die Türen mussten wegen der Pandemie verschlossen bleiben. Eine Notlösung war eine Premiere nur vor geladenen Kritikern im Juni letzten Jahres, die aufgezeichnet wurde und anschließend nur wenige Male im Internet als Stream erlebt werden konnte. Jetzt wird das seinerzeit bahnbrechende Werk endlich im normalen Betrieb auf die Bühne des Opernhauses gehoben. Und das zu Recht. Denn damit stellen die Wuppertaler Bühnen eindrucksvoll unter Beweis, dass sie höchst anspruchsvolle moderne Werke äußerst gehaltvoll zur Aufführung bringen können.

Nono setzte sich rund acht Jahre mit Plänen für ein Musiktheater auseinander, das schließlich als sein Erstling in Intolleranza 1960 mündete. Bis dahin fehlten ihm höchstwahrscheinlich die Möglichkeiten, seine Vorstellung von einem musikpolitischen Schauspiel zu realisieren. Ganz neu, im Gegensatz zur tradierten Oper, sind die Texte, die mit einem normalen Libretto nicht viel zu tun haben. Er kombiniert Dokumente mit Lyrik, aktuellen Ereignissen und Schlagzeilen. Ferner wird keine Geschichte erzählt. Vielmehr werden menschliche Schicksale dargestellt, denen gesellschaftliche Situationen zugrunde liegen. Die Textvertonungen sind keine Vokalkompositionen mehr im bekannten Sinn. Die gesungenen Töne sind in den Instrumentalklang integriert, also Bestandteile des musikalischen Gefüges. Der Text bildet so eine Einheit mit dem akustischen Ganzen. Der Chor wird in seine Einzelteile zerlegt, in dem die Stimmgruppen mehrfach geteilt sind und demzufolge vielfache Klangdichten erreicht werden. Diese Neuerungen sind eingebettet in sämtliche kompositorische Techniken, die sich Nono in den 1950-er Jahren angeeignet hat. Charakteristisch sind die aggressiven Blechbläser- und Schlagzeugabschnitte, lyrische Streicherklänge oder metallische Sounds. Basis ist eine Zwölftonreihe, deren Töne sich hinsichtlich Klangfarben, Dynamik, Artikulation ändern, miteinander verbinden. Daraus entwickeln sich ständig neue musikalische Spannungen und Klangflächen.

Diese komplexe Vielschichtigkeit an musikalischen Entwicklungen, Prozessen, gleichzeitig ablaufenden Schichten wie Überlagerungen verlangt nach „immersive Audio“, der Fachbegriff für mehrdimensionale Tonwiedergabe vom Surround-Sound bis hin zur Dreidimensionalität. Solch eine Realisierung hatte sich der Komponist auch vorgestellt. So machte, Corona geschuldet, Dirigent und Komponist Johannes Harneit letztes Jahr aus der Not eine Tugend. Der ausgewiesene Nono-Kenner teilte das Sinfonieorchester Wuppertal und den Chor auf, um die Abstandsregeln einzuhalten. Daran hat sich nichts geändert: Die Streicher sitzen im Graben. Auf der Hinterbühne befinden sich unter der Ägide von Co-Dirigent Stefan Schreiber die Blechbläser und die große Schlagwerkabteilung, während die Holzbläser im zweiten Rang Aufstellung nehmen. Und der glänzend von Ulrich Zippelius einstudierte Opernchor ist teilweise auf den Balkonen und dem Parkett aufzufinden. Auf Harneit, zur Zeit des Schillertheaters NRW von 2006 bis 2000 Kapellmeister in Wuppertal und Gelsenkirchen, ist jederzeit Verlass. So sorgen die städtischen Sinfoniker dank seines umsichtigen und in allen Belangen präzisen Dirigats für eine außerordentlich differenzierte, transparente Raumakustik. Hochsensibel werden sirrende, sphärische Klangschichten geformt. Herzzerreißende Klangeruptionen kommen ebenso aus allen Richtungen wie schneidende Dissonanzen und spannungsgeladene Ruhe. Ein Klangfest par excellence wird erlebt, das das Publikum in seinen Bann schlägt.

Eingangs- und Schlusschor – perfekt eingesungen vom Chorwerk Ruhr – kommen vom Tonband zugespielt aus den vielen Lautsprechern im Raum. Sie sind der Rahmen, in dem sich die gesamten szenischen Vorgänge entfalten. Regisseur Dietrich Hilsdorf verlagert die Handlung ins Heute. Deswegen heißt die Inszenierung passend Intolleranza 2022. Gnadenlos führt er Ausbeutung, Polizeigewalt, Folter und eine in Wasserfluten versinkende Welt vor Augen. Ort des Geschehens ist ein von Dieter Richter entworfener, heruntergekommener Wohncontainer, in dem der in einer Großschlachterei arbeitende Emigrant sein Leid klagt, seine wenigen sieben Sachen in einen billigen Plastiksack packt, abhaut und in eine große Maidemonstration mit vermummten Protestlern und Polizei in Kampfmontur gerät. Gequält wird mit starken Elektrostößen. Wie ein Hund an der Leine krabbelt er auf Händen und Füßen im Strafgefangenenlager. Ärmlich ist die Containerhütte, vor der die Sintflut mit Verweisen auf die Jahrhundertflut im Ahrtal vonstattengeht. Dazu passen die Videos von Gregor Eisenmann, die die Gewalt bei der Demo visualisieren, an den Fenstern den Wasserpegel unerbittlich steigen lassen, Seelenzustände nach außen kehren. Wenn schließlich Bertolt Brechts Gedicht An die Nachgeborenen nachdrücklich rezitiert wird, ist alles in den Fluten versunken. Einzig bleibt die Hoffnung, dass die Welt danach eine bessere, menschlichere ist.

Darstellerisch und sängerisch lassen die Gesangssolisten keine Wünsche offen. Glaubhaft bringen sie die Ängste, Nöte und Hoffnungen tief nachempfunden zum Ausdruck. Markus Sung-Keun Park ist der Emigrant, dessen dramatischer Tenor seine Qualen und Sehnsüchte ergreifend gestaltet. Sopranistin Lisa Mostin als seine Gefährtin und Mezzo Annette Schönmüller als andere Frau faszinieren ebenfalls mit in allen Stimmlagen variablen, ausdrucksstarken Gesängen. Diesen hohen Gesangsqualitäten stehen Simon Stricker als Algerier und der gefolterte Bassist Sebastian Campione in nichts nach. Außerdem windet sich der misshandelte Körper Andrey Berezins vom Tanztheater Pina Bausch derart täuschend echt über den Boden, dass man leicht mitleiden kann.

Im Auditorium hebt nicht enden wollender Beifall an gegenüber allen an dem Projekt beteiligten Personen als Dank für eine erstklassige und packende Vorstellung. Erst als sich unwiderruflich die Bühne leert, ebben die Ovationen ab. Die sehens- wie hörenswerte Intolleranza 2022 steht in diesem Jahr weiterhin am 5. November und 16. Dezember auf dem Spielplan.

Hartmut Sassenhausen