O-Ton

Kulturmagazin mit Charakter

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Aktuelle Aufführungen

Spritzige Dialoge und Standardtänze

ICH HASSE DICH HEIRATE MICH!
(Florian Battermann, Jan Bodinus)

Besuch am
14. August 2020
(Premiere)

 

Stößel Komödie Wuppertal
Meiningen

Das ist eine solche Überraschung, dass darüber das Stück fast in Vergessenheit gerät. Klar war, dass Stößels Komödie Wuppertal zum 14. August in die eigene Spielstätte, das Theater am Karlsplatz, aus der schönen Ausweichspielstätte Kulturzentrum Immanuel zurückkehren würde. Der Neustart sollte mit einem brandneuen Stück versüßt werden. Kristof Stößel hatte ja schon in einem früheren Interview ausgerechnet, dass bei den geltenden Abstandsregeln nicht allzu viele Plätze für die Besucher zur Verfügung stünden. Dafür ist schon auf dem Vorplatz ziemlich viel Betrieb. Auch im Foyer, in dem eine Einbahnstraßenregelung eingeführt ist, halten sich eine Menge Leute auf. Maskenpflicht im Haus, Desinfektionsmittel am Eingang, Registrierung an der Kasse, man kennt das inzwischen. Einmal am Platz angekommen, darf man die Maske ja auch wieder abnehmen. Und kommt aus dem Staunen nicht mehr heraus. Der Saal füllt sich bis nahezu auf den letzten Platz. Was ist denn hier los? So richtig wohl fühlt man sich mit der neuen Entwicklung nicht. Ein bisschen viel Großfamilie auf einmal. Erst in der Pause – jawohl, Pause, das Wort, das bei den Ersatzspielplänen der größeren Häuser für die kommende Spielzeit komplett gestrichen ist – gibt es die Aufklärung. Bei Personenregistrierung sind in Wuppertal Versammlungen von bis zu 300 Personen ohne weitere Hygieneregeln möglich.

Da sind die 175 Plätze in der Komödie natürlich rasch gefüllt. So ganz wohl fühlt sich die Theaterleitung mit dieser plötzlichen Großzügigkeit auch noch nicht und hat wenigstens die Hygieneregeln, die bislang galten, noch weitgehend übernommen, bis auf die wichtigste: die Abstandsregel. So richtig beruhigend ist der Umstand, dass das Publikum an diesem Abend nahezu vollständig aus Angehörigen der Risikogruppen besteht, auch nicht. Die Wuppertaler Besucher hingegen sind schmerzfrei. Zu groß ist das Bedürfnis nach Unterhaltung. Also tun alle so, als wäre ein vollbesetzter Theatersaal das Normalste auf der Welt. Der eine oder andere schaut wohl schon mal verstohlen auf die Warn-App, aber allüberall leuchtet es grün. Und die Show kann beginnen.

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Ich hasse dich heirate mich! haben Florian Battermann und Jan Bodinus ihr neues Stück genannt, das von der Zeit im Shutdown handelt. Tanzlehrerin Kerstin Schröder ist in der eigenen Wohnung gefangen. Sie versucht, sich mit Online-Tanzstunden für Herrn Müller über Wasser zu halten. Über ihr wohnt Helga Otto, die stets gut informierte, interessierte und Nachrichten verbreitende Nachbarin. Man hilft sich gegenseitig mit Klopapier, Hefe und anderen Dingen, die man für das Überleben in Corona-Zeiten braucht. Holzschnittartig geht es weiter, wenn unter der Tanzlehrerin der ruheliebende Schriftsteller Felix Schwarz einzieht und sich alsbald über die Lärmbelästigung aus der Wohnung über ihm beschwert. Eine abstruse Beziehungstheorie der Tanzlehrerin führt schnell zu den gewünschten Verwicklungen. In dieser Komödie steckt alles, was sich die Menschen von einem deftigen Spaß wünschen, wenn es sich auch anfänglich zäh entwickelt. Aber wenn im ersten Teil die Zoten, zu häufige running gags und arg zahme Personenführung überwunden sind, wird man im zweiten Teil durch rasante Szenen und außergewöhnlichen Körpereinsatz rasch entschädigt. Maßgeblichen Anteil daran hat Gabriele Schäfer von der Tanzschule Schäfer, die wirklich Grandioses in kürzester Zeit bei den bis in die Haarspitzen motivierten Darstellern an Tanzkünsten hervorgezaubert hat.

Dass es bei diesem Stück erst gar keine ausgewiesenen Einzelleistungen wie Regie, Bühne und Kostüm gibt, liegt wohl am ehesten daran, dass hier „Familie Stößel und Freunde“ wieder eine bravouröse Gesamtleistung erstellt haben. Die Wohnung der Tanzlehrerin Kerstin konzentriert sich auf ein Wohn-, Schlaf- und Arbeitszimmer, aus dem verschiedene Abgänge in Bad, Küche und Flur führen. Hier tummelt sich das Personal. Die Tanzlehrerin in luftiger Kleidung und absatzhohen Schuhen, der Schriftsteller im lässigen Jeanshosen-Look und Frau Otto in wechselnden extravaganten Hosenanzügen samt farbig passenden Masken.

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Und jedem, der zum Stammpublikum der Komödie gehört, ist natürlich sofort klar, wer Frau Otto ist. Den schillernden Paradiesvogel, der hier die übertrieben neugierige Nachbarin gibt, kann – wenigstens bei der Premiere – nur einer geben. Kristof Stößel erntet schon beim ersten Auftritt Applaus, obwohl er eigentlich eine Nebenrolle spielt, ehe er den Sirtaki entdeckt. Die üblichen Hänger und Haken und der Umgang damit haben sich bei Stößel ja längst zum Markenzeichen entwickelt, die Leute warten geradezu darauf. Aber Frau Otto gelingt es nicht – und davon ist Stößel ja auch weit entfernt – irgendjemanden an die Wand zu spielen. Denn mit Michèle Connah hat er die Idealbesetzung für Kerstin gefunden. Mit enormer erotischer Ausstrahlung fegt sie, wenn ihr Gelegenheit gegeben wird, wie ein Wirbelwind über die Bühne, außergewöhnlich textsicher und letztlich anschmiegsam wie ein Lederhandschuh. Ihre Energie überträgt sich auf die anderen. Da kann Dirk Stasikowski sich als Schriftsteller völlig gehen lassen, die Rolle des zunehmend Betrunkenen auskosten und noch einmal neu und überzeugend interpretieren. Ein köstlicher Abend mit vorhersehbarem Ende, das so zwingend ist, dass man es sich herbeiwünscht. Dass die zahlreichen Tänze so großartig wie noch ein wenig gelernt wirken, nimmt man gern in Kauf. Da dürfen wir mal getrost davon ausgehen, dass Stasikowski für dieses Stück seine ersten Tanzstunden erhalten hat, und dafür ist die Leistung wirklich hervorragend. Die Choreografin oder weniger hochtrabend die Tanzlehrerin hat hier wirklich ganze Arbeit geleistet.

Da liegt die Lust nahe, sich auch die Zweitbesetzung oder lieber: die andere Besetzung des Stücks anzuschauen. Connah und Safak Pedük werden sich hier einen „erbitterten Wettkampf“ liefern und vermutlich im Patt enden. Die Komödie in Wuppertal hat sich fulminant zuhause zurückgemeldet. Nach zweieinhalb Stunden tobt das Haus, die Leute springen von den Sitzen, applaudieren, feiern – nein, ausgelassen darf man ja nicht sagen, aber das euphorisierte Publikum ist sehr nahe daran. Obwohl, das ist jetzt auch egal. Die Freude obsiegt. Und der Optimismus, dass das Publikum mit seiner ganzen Liebe die Komödie aus dieser Krise emportragen wird.

Michael S. Zerban