Kulturmagazin mit Charakter
Aktuelle Aufführungen
HEIMWEH
(John Wineglass, Wolfgang Amadeus Mozart, Johannes Brahms)
Besuch am
14. November 2022
(Wiederholung des Konzerts vom 13. November 2022)
Sinfonieorchester Wuppertal, Historische Stadthalle Wuppertal
Warum halten es viele Veranstalter für zwingend notwendig, ihre Konzertprogramme mit Titeln zu versehen, auch dann, wenn die aufgeführten Werke hinsichtlich Aussage und Inhalt auf keinen gemeinsamen Nenner zu bringen sind? Ein Beispiel ist das dritte Wuppertaler Sinfoniekonzert im gut besuchten Großen Saal der Historischen Stadthalle, das mit Heimweh überschrieben ist. Laut Duden bedeutet das Wort: „große Sehnsucht nach der fernen Heimat oder einem dort wohnenden Menschen, bei dem man sich geborgen fühlte“. Nur ist bei genauer Betrachtung der drei aufgeführten Stücke davon nichts auffindbar. Im vorliegenden Fall hätte es eigentliche keines Wortes bedurft außer eventuell einfach die Nennung des Namens Carl St. Clair. Denn seit seinem ersten Gastspiel vor rund 20 Jahren ist der US-amerikanische Dirigent beliebt in der Stadt. Wie in der Vergangenheit sorgt er auch dieses Mal für ein ausgezeichnetes Konzert.
Carl St. Clair – Foto © O-Ton
Ein brandaktuelles Werk für Perkussion, Harfe und Streicher hat St. Clair aus den Vereinigten Staaten mitgebracht, in dem die dort immer noch in Gewalt ausartenden Rassenunruhen und die Corona-Pandemie musikalisch verarbeitet sind. Auf den Namen Alone Together, also „allein zusammen“, taufte es John Wineglass und widmete es allen, die an den Folgen von Covid 19 starben. Vier Orchester – Fresno Philharmonic, Monterey Symphony, Pacific Symphony, San José Chamber Orchestra – hatten es in Auftrag gegeben. Aus der Taufe hob es die Pacific Symphony unter ihrem Musikdirektor St. Clair letztes Jahr am 25. Mai. Es besteht aus zwei nahtlos ineinander übergehenden, unterschiedlichen Abschnitten: Strange Pandemic Times und A Ray of Hope, auf Deutsch „Seltsame Pandemiezeiten“ und „Ein Strahl der Hoffnung“. Nach einführenden Worten St. Clairs, darunter Zitate des Komponisten über die oben erwähnten Beweggründe, führt das Sinfonieorchester Wuppertal unter St. Clairs präzisen Vorgaben dieses etwas mehr als zehnminütige Opus packend und sehr nuanciert auf. Die changierenden, keinem Grundton zuzuordnenden tonalen wie atonalen Strukturen, das Wechselspiel der drei Orchestergruppen, die wie aufgewühlt wirkenden musikalischen Schwebezustände im ersten Teil werden anschaulich und packend vermittelt. Dass Wineglass in erster Linie als Film- und Fernsehkomponist Musik schreibt, ist anschließend nicht von der Hand zu weisen. Die Hoffnung evozierenden, positiv nach vorne schauenden schönen Melodien, sehr emotional und geschmackvoll zu Gehör gebracht, gemahnen an viele Happy Ends von jenseits des Großen Teichs produzierten Zelluloidstreifen.
Catarina Laske-Trier – Foto © O-Ton
Anschließend kann man sich davon überzeugen, dass zwei Mitglieder des städtischen Orchesters hervorragende Solisten sind: Solo-Flötistin Catarina Laske-Trier und Harfenistin Manuela Randlinger-Bilz. Munter, agil und mit viel Spielwitz gestalten sie Wolfgang Amadeus Mozarts Konzert für Flöte, Harfe und Orchester in C-Dur, KV 299. So bringen sie diese beschwingte, elegante Gesellschaftsmusik mit ihren eingängigen Melodien sehr nuanciert und unterhaltsam von der Bühne. Blindes Verständnis füreinander ist gerade bei den Kadenzen offenbar. Hier wird deutlich, dass sie schon lange kammermusikalisch als Duo d’Or unterwegs, also bestens aufeinander eingespielt sind. Unter St. Clairs mitatmendem Dirigat begleiten die städtischen Sinfoniker das Duo mit sensiblen Dynamiken und feinen Phrasierungen. Für den frenetischen Beifall bedanken sich Laske-Trier und Randlinger-Bilz mit einer perfekt vorgetragenen kleinen Zugabe: Café 1930 aus Histoire du Tango, eine der berühmtesten Kompositionen Astor Piazollas aus dem Jahr 1985.
Von der ersten bis zur letzten Note spannt St. Clair einen großen musikalischen Spannungsbogen über die vierte Sinfonie in e-Moll, op. 98 von Johannes Brahms. Bestimmend, prägnant, jederzeit differenziert durchhörbar selbst im Fortissimo ist die Tongebung. Im Vordergrund steht eine nachdrückliche, ganz direkte Sprache. Diese Haltung macht durchaus Sinn, da so neben den der Sieglosigkeit nach mehr als 40-minütigen Kämpfen die barocken kompositorischen Bezüge leicht nachvollzogen werden können. Mächtig-dominant entwickelt sich die trotzige kämpferische Haltung im ersten Satz. Dann überwiegen schnörkellos Wehmut, Mahnung, Resignation. Die sich anschließende Heiterkeit verliert unnachgiebig ihre Selbstständigkeit hin zum grimmigen Humor. Musikalisch wie in Stein wird die finale Chaconne mit ihren 31 Variationen gemeißelt, die schließlich zur glasklar dargestellten Erinnerung an das Ende des Einleitungssatzes als unerbittlichem Abschluss führt.
Die nicht enden wollenden stehenden Ovationen sind der verdiente Dank für diese in den Bann ziehende Interpretation. Sie ebben erst dann ab, als St. Clair endgültig mit seinem Blumenstrauß zum Abschied winkt.
Hartmut Sassenhausen