O-Ton

Kulturmagazin mit Charakter

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Aktuelle Aufführungen

Gott schütze den Verein

EXTRAWURST
(Dietmar Jacobs, Moritz Netenjakob)

Besuch am
8. August 2021
(Premiere am 2. Juli 2021)

 

Stößels Komödie Wuppertal, Wuppertaler Brauhaus

Gibt es einen Studenten, der nicht gekellnert hat? Und gut ist das. Geschadet hat es wohl kaum jemandem, ganz sicher nicht Kristof Stößel. Der Chef zweier Privattheater hat sich vor vielen Jahren im Wuppertaler Brauhaus verdingt. Und zwischendurch sicher mehr als einmal daran gedacht, wieder in den gastronomischen Betrieb zurückzukehren, der ganz in der Nähe des Barmener Rathauses mit der ungewöhnlichen Atmosphäre einer ehemaligen Badeanstalt aufwartet. Die Wuppertaler Komödie oder das Kabarett Flin in Düsseldorf zu öffnen, macht für Stößel bei den derzeit immer noch geltenden Restriktionen keinen Sinn, sind doch die Betriebskosten höher, als noch so viele Aufführungen einbringen könnten. Also ruft er seinen ehemaligen Chef, Richard Hubinger, an. Aber nicht, um ihn nach einer Beschäftigung als Kellner zu fragen – obwohl vermutlich auch das schon nicht mehr so ganz abwegig wäre – sondern um sich zu erkundigen, ob der Geschäftsführer des Wuppertaler Brauhauses tatsächlich die ganze Außenfläche seines Biergartens benötige. Denn Stößel hat die Aufführungsrechte für eine Komödie erworben, die seit dem 6. Oktober 2019 nach der Uraufführung im Hamburger Ohnsorg-Theater einen unglaublichen Siegeszug angetreten ist.

Melanie Spielmann – Foto © O-Ton

Dietmar Jacobs und Moritz Netenjakob sind längst erfolgreiche Autoren für Theater und Fernsehen, als sie mit Extrawurst vermutlich, zumindest aus heutiger Sicht, den Coup ihres Lebens landen. Seit der Uraufführung läuft das Stück landauf, landab auf öffentlichen und privaten Bühnen. Eine der besten, wenn nicht die beste, weil wunderbar authentische Inszenierung ist seit dem 2. Juli im Wuppertaler Brauhaus zu erleben. Ursprünglich als Open-Air-Veranstaltung angelegt, hat das Wuppertaler Ensemble die Möglichkeit, sich bei schlechtem Wetter in den so genannten Brausaal zurückzuziehen. Braukessel sucht man hier allerdings vergebens. Der schlauchartige Raum wirkt eher wie ein Seitenflügel der Gastronomie. Hier gelten nicht nur die weitaus harmloseren staatlichen Restriktionen für die Gastronomie statt die für die Kultur, sondern die Räumlichkeit ist auch wie geschaffen für die Mitgliederversammlung eines Tennisclubs. Links und rechts versammeln sich die Mitglieder vulgo das Publikum unter Neonröhren und Wandleuchtern, während der Vorstand in der Mitte an einem erhöhten Tisch Platz nimmt. Auch ohne Ansage wird man sich binnen weniger Minuten als Gast als vollwertiges Mitglied des Tennisclubs fühlen. Jacobs und Netenjakob haben ihr Brennglas auf die Gesellschaft zielgenau auf das Vereinsleben gesetzt. In diesem einzigartigen Mikrokosmos, der für die Deutschen so unentbehrlich zu sein scheint wie das tägliche Brot – und davon wurde ja im vergangenen Jahr auch privat viel gebacken – nimmt das Grauen seinen Lauf. Obwohl zunächst nichts darauf hindeutet. Die Tagesordnung ist routiniert und zackig abgearbeitet. Schließlich hat der wiedergewählte Vereinsvorstand alles minutiös vorbereitet, was die Mitglieder auch nicht anders erwarten. Sicher nicht unbeabsichtigt gibt es im Ensemble nur eine Frau, was neuerdings politisch vollkommen unkorrekt erscheint. Als die allerdings ihren Arm hebt und mit den Fingern schnippt, weiß jeder im Raum: Das noch unbekannte Drama nimmt seinen Lauf. Allein schon dieser Moment ist absolut großartig.

Gerade hat der Zweite Vorsitzende noch seinen Grill angepriesen, der neu für das gesellige Vereinsleben angeschafft werden soll, als die Frage folgt: „Und was ist mit Erol?“ Niemand weiß, was Melanie Pfaff, die mit Erol Ooturan gerade im gemischten Doppel erfolgreich Bezirksmeister wurde und damit zu den Helden im Vereinsleben gehört, mit dieser Frage bezweckt, aber jeder weiß, dass das Grauen jetzt beginnt. Schließlich kann man einem Angehörigen des muslimischen Glaubens nicht zumuten, dass er seine halalen Würstchen mit auf den Grill legt, auf dem die Menschen christlichen Glaubens ihre Schweinsbratwürste zubereiten. Erol hat bis zu diesem Zeitpunkt keinen Gedanken daran verschwendet, glücklicherweise erkennt Melanie das „Problem“. Damit kommt hier im Kleinen in Gang, was derzeit die bundesrepublikanische Gesellschaft spaltet. Es gibt eine Minderheit, die ein Anliegen hat, und es gibt ihre selbsternannten „Anwälte“, die daraus ein gesamtgesellschaftliches Drama entwickeln. Die sind darin geschult, nicht zu diskutieren, sondern Standpunkte zu vertreten und Andersdenkende kaltzustellen, etwa indem man sie in die politisch rechte Ecke zu stellen versucht. Was im größeren gesellschaftlichen Zusammenhang immer häufiger groteske bis bedrohliche Ausmaße annimmt, zeigt sich im Vereinshaus als das, was es eigentlich ist. Eine absurde Banalität. Und hier kann man damit so umgehen, wie man es eigentlich auch im Großen tun sollte. Man kann schallend darüber lachen. Dazu tragen auch die deutlich gezeichneten Charaktere bei.

Dirk Stasikowski – Foto © O-Ton

Kristof Stößel ist Heribert Bräsemann, eben wiedergewählter Clubvorstand, in die Jahre gekommen, traditionsverliebt, aber immer nach Größerem für den Verein strebend. Er weiß, dass man auch mal mit der Faust auf den Tisch schlagen muss, um Dinge voranzutreiben. Klappt diesmal nicht, aber Stößel ist herrlich „bräsig“. Seinen Stellvertreter, Matthias Scholz, gibt Dirk Stasikowski als technikverliebten, aber wenig diskussionsgeübten Menschen, der von Führung gar nichts versteht, aber eigentlich Heribert beerben möchte. Sein Scheitern ist vorprogrammiert, aber herrlich interpretiert. Einer Melanie Pfaff, wie Melanie Spielmann sie darstellt, möchte man im wirklichen Leben gar nicht begegnen. Ihre Penetranz ist ätzend, und Spielmann kann das sehr glaubhaft vermitteln. Ebenso wie Niklas Peternek ihren Ehemann Torsten, der als Werbetexter arbeitet und seine Ehe ernsthaft – und vielleicht auch nicht unbegründet – gefährdet sieht, wirklich unsympathisch als weltverbessernden Jammerlappen präsentiert. Anwalt Erol Ooturan ist vorbildlich integriert, mit einer deutschen Frau verheiratet und fühlte sich bis zu diesem Abend eigentlich im Verein angekommen. Giovanni Arvaneh überzeugt als „der Türke“ mit Würde und Bestimmtheit.

Eigentlich ist das eingespielte Ensemble gewöhnt, Gags gekonnt schnell voran und auf die Spitze zu treiben. Das funktioniert bei Extrawurst nicht. Wer den feinen Humor dieser Komödie überzeugend auf die Bühne respektive ins Vereinshaus bringen will, muss so ernsthaft und realitätsnah auftreten, dass es fast schon beängstigend wirkt. Dem Team um Stößel gelingt das in überwältigender Weise. Dass hier Schauspieler auf einer Bühne stehen, glaubt nach spätestens einer Viertelstunde keiner mehr. An diesem Abend steht so manchem Besucher der Vorsatz auf der Stirn geschrieben, sich bei der nächsten Mitgliederversammlung seines Vereins ganz bestimmt nicht so zu verhalten.

Seit Ende des vergangenen Jahres hat man kein besseres Stück auf einer deutschen Bühne gesehen, hier in Wuppertal eher zufällig an den exakt passenden Aufführungsort geraten, grandios inszeniert und bis auf das letzte Wort überzeugend dargestellt. Um den Genuss abzurunden, sorgt das Betreuungspersonal von Theater und Gastronomie für den perfekten Service. Bis zum 22. August kann man sich davon noch selbst fast täglich überzeugen. Einen ersten Eindruck vermittelt die Leseprobe.

Michael S. Zerban