O-Ton

Kulturmagazin mit Charakter

Foto © Peter Wieler

Aktuelle Aufführungen

Kristallklar und pianistisch bravourös

EVGENY KISSIN
(Diverse Komponisten)

Besuch am
27. Juni 2022
(Einmalige Aufführung)

 

Klavier-Festival Ruhr, Historische Stadthalle Wuppertal

Evgeny Kissin hat sein Kommen angekündigt. Das wollen sich die klassischen Musikfreunde nicht entgehen lassen und reisen aus nah und fern nach Wuppertal auf den Johannisberg. Dementsprechend ist das dortige Parkett des Großen Saals der Historischen Stadthalle Wuppertal bis auf ganz wenige Stühle voll besetzt.

Bei dem 50-jährigen Russen scheiden sich die Geister. Die einen halten ihn seit mindestens 30 Jahren für einen der größten Pianisten. Für die anderen ist er ein Rätsel wegen seiner mehr oder weniger unkonventionellen Interpretationen. Auch bei seinem Gastspiel im Rahmen des Klavier-Festivals Ruhr gehen die Meinungen auseinander, wenn er bedeutende Werke aus Barock, Klassik und Romantik präsentiert.

Los geht es mit einem Evergreen von Johann Sebastian Bach: die Toccata und Fuge in d-Moll, BWV 565. Dieses Orgelwerk haben viele für andere Instrumente bearbeitet, darunter einige für Klavier solo. Geläufig ist etwa die Fassung von Ferruccio Busoni. Kaum bekannt ist die von Carl Tausig. Der Pianist, Komponist und Musikpädagoge lebte von 1841 bis 1871, war ein Lieblingsschüler von Franz Liszt und ein Anhänger von Richard Wagner. Bekannt wurde er in erster Linie als Bearbeiter von Werken der beiden Komponisten. Tausigs Bach-Version ist eine freie Bearbeitung und anders gegliedert als der Urtext. Zuerst kommt eine Toccata mit den vier Abschnitten Adagio, Presto, Allegro und Prestissimo. Ihr schließt sich eine Fuge im Allegro mit folgender Anweisung an: mit möglichst breitem Tone vorzutragen, also largamente. Ein unbetitelter Abschnitt schließt sich an, dem ein Adagio, Presto, wieder ein Adagio, dann ein Vivace folgen. Mit Maestoso sind die drei Schlusstakte überschrieben. Hochvirtuos ist der Klaviersatz gesetzt. Etwa kommen viele Oktavverdoppelungen, Tonrepetitionen, Läufe und Akkordbrechungen im hohen Tempo und laut notiert vor. Der Grund für einen solchen Tonsatz analog zum streckenweise wuchtigen Original kann durchaus darin bestehen, eine Orgel zu imitieren, bei der alle Register gezogen sind. Kissin demonstriert anhand des hochgradig schweren Stücks seine ganz große pianistische Klasse. Wie spielerisch leicht meistert er selbst die kompliziertesten Passagen brillant und lässt im dreifachen Forte donnernde Töne aus dem Konzertflügel kommen. Auch die erste Zugabe ist eine Bach-Bearbeitung, nämlich die Klavierfassung Busonis des Choral-Präludiums für Orgel Nun komm der Heiden Heiland, BWV 659. Hier wie bereits bei BWV 565 ist seine Tongebung bis auf die Pianostellen trocken-markant. Ganz im barocken Stil spielt er die Achteltöne portato, also nachdrücklich und voneinander getrennt. Deutlich stellt er die Choralmelodie in den Vordergrund.

Foto © Peter Wieler

Ähnlich nüchtern nimmt Kissin das Adagio in h-Moll, KV 540, von Wolfgang Amadeus Mozart. Glasklar, scharf akzentuiert und die Mozartsche Seufzermotivik deutlich vernehmbar kommt das Stück von der Bühne. Genauso strukturell tief durchdrungen bringt er Ludwig van Beethovens vorletzte Klaviersonate in As-Dur, op. 110 zu Gehör. Wesentlich verspielter und mit schönen musikalischen Bögen gestaltet er als zweite Zugabe Mozarts Rondo in D-Dur, KV 485.

Der umfangreichste Block ist Frédéric Chopin gewidmet. Sieben seiner 57 Mazurkas aus den Opus-Zahlen 7, 24, 30, 33 und eine weitere aus 17 als vierte und letzte Zugabe stehen auf dem Programm. Die Mazurka ist ursprünglich ein slawischer Gesellschaftstanz. Chopin betonte aber, dass seine Mazurkas keine Tanzstücke sind. Denn neben folkloristischen Merkmalen beinhalten sie auch lyrische Elemente. Diese Inhalte kommen verständlich zum Ausdruck. Kissin intoniert sie im romantischen Duktus, aber trocken und somit sehr durchsichtig-sachlich mit im Sinne Chopins sensiblen Rubati. Damit sind Tempoveränderungen hinsichtlich Verlangsamung und Beschleunigung gemeint. Dabei ist sein Forte mächtig, teils grob wie fulminant, sein Piano dagegen fragil-kantabel. Diese Haltung dominiert ebenfalls bei dem Andante spianato et Grande Polonaise in Es-Dur, op. 22 und als dritter Zugabe der Héroïque, Chopins berühmter Polonaise in As-Dur op. 53.

An diesem Abend ist Kissins grandiose Virtuosität kein Selbstzweck. Er stellt sie rein in den Dienst der Notentexte, um sie und deren kompositorische Inhalte detailliert und anschaulich zu vermitteln. Dabei lässt er seine eigenen musikalischen Gefühle ganz außen vor stehen. Doch auch der emotionale Gehalt der Werke kommt qua seiner eher neutralen Tongebung nicht immer zum Vorschein. Dafür können die meisterhaften Tonsatztechniken der Komponisten leicht nachvollzogen werden.

Der letzte Ton des Opus 22 von Chopin ist noch nicht ganz verklungen, als stürmischer Beifall, gespickt mit Bravi, Pfeifen und Grölen wie bei Rock- und Popkonzerten ausbricht. Keinen hält es mehr auf den Stühlen. Die standing ovations ebben erst nach der vierten Zugabe ab.

Der Klavierabend ist für das Fernsehen dokumentiert. Gesendet wird er auf dem französischen Fernsehsender Mezzo TV am 2. Juli um 21 Uhr. Am 23. Oktober wird es im WDR-Fernsehen ausgestrahlt. Über weitere Sendetermine wird rechtzeitig im Internet informiert.

Hartmut Sassenhausen