O-Ton

Kulturmagazin mit Charakter

Foto © Peter Wieler

Aktuelle Aufführungen

Drei lebende Legenden

MARTHA ARGERICH
(Diverse Komponisten)

Besuch am
24. Januar 2022
(Einmalige Aufführung)

 

Klavier-Festival Ruhr, Historische Stadthalle Wuppertal

Das traditionsreiche Neujahrskonzert des Klavier-Festivals Ruhr ist in diesem Jahr in zweifacher Hinsicht außergewöhnlich. Zum einen treten gleich drei lebende Legenden in der Historischen Stadthalle Wuppertal auf: Pianistin Martha Argerich, Geiger Gidon Kremer und Cellist Mischa Maisky. Zum anderen werden überwiegend Werke osteuropäischer Komponisten geboten, die hier noch nicht oft auf Konzertprogrammen stehen. Dieses Ereignis hat sich im Vorfeld wohl überregional herumgesprochen. Denn trotz sehr scharfer Corona-Regeln reisen aus Nah und Fern die Musikfreunde in Scharen an und sorgen so für den Umständen entsprechend sehr gut besuchten Großen Saal.

Mieczysław Weinberg dürfte eher Fachleuten ein Begriff sein. 1919 in Warschau geboren, floh er 1939 vor den Nazis in die Sowjetunion. Dort wurde er von Dmitri Schostakowitsch entdeckt. Es entwickelte sich eine enge Freundschaft. Beide befruchteten sich musikalisch gegenseitig. Nach dem Krieg litt er sehr unter den antisemitischen Tendenzen während der Stalin-Diktatur, wurde auch inhaftiert. Nach Stalins Tod kam er 1953 wieder auf freien Fuß. Repressalien gab es fortan nicht mehr. Doch begleitete ihn bis zu seinem Tod die Angst davor. Er zog sich zurück. Verarmt und von der Musikwelt vergessen starb er 1996 in Moskau. Erst seit Juli 2010 findet er allmählich wieder Beachtung. Auslöser war die posthume Uraufführung seiner Oper Die Passagierin bei den Bregenzer Festspielen. Auch Gidon Kremer setzt sich für die Widerentdeckung des Komponisten ein. So hat er seine fünfte Sonate für Violine und Klavier aus dem Jahr 1953 mit im Gepäck, die Schostakowitsch gewidmet ist. In diesem Opus 53 geht es um Angst und Trauer, das ein boshaftes Intermezzo einschließt. Emotionale Steigerungen, elegische Klage drücken unter anderem diese Befindlichkeiten aus. Dabei treten Geige und Klavier in einen Dialog ein. Die seelischen Zustände zeichnen Kremer und die Grande Dame des Klaviers mit großen Spannungsbögen ergreifend und leicht nachvollziehbar nach.

Foto © Peter Wieler

Ebenso macht sich Kremer für die zeitgenössischen Komponisten stark. So liegen zwei Werke für Violine solo nach der Pause auf seinem Notenpult. Wie Weinberg war auch der 1937 in Kiew geborene Komponist Valentin Silvestrov lange unbekannt, fand erst nach dem Ende der Sowjetunion Anerkennung. Anfangs gehörte er der Kiewer Avantgarde an, komponierte mit den Mitteln der Zwölftontechnik. Später löste er sich von dieser strengen Form. Über die Verwendung von Zitaten oder Collagetechniken ging sein Weg hin zu einer neo-romantischen Tonsprache. Seine Serenade aus diesem Jahrhundert ist reich an Akzentuierungen und Verzögerungen. Sie ist sanft, elegant, dünn mit großem seelischem Tiefgang. Der Geiger und Komponist Igor Loboda wurde 1956 in Tiflis geboren. Er ist Mitglied des Georgischen Kammerorchesters Ingolstadt und Preisträger von Kompositionswettbewerben. In seinem Requiem für Violine solo, 2014 entstanden und den Opfern des Ukraine-Konflikts gewidmet, spielen elegische Kantilenen und chaotisch-brutale Ausbrüche eine große Rolle. Beide Stücke trägt Kremer mit einer großen inneren Ruhe sehr beseelt vor. Selbst komplexe Strukturen bringt er deutlich zum Ausdruck. Bei einigen lauten Passagen fehlt nur etwas ein fester Zugriff und im Piano eine feinere Bogenführung.

Foto © Peter Wieler

Vierter im Bunde osteuropäischer Komponisten ist an diesem Abend Weinbergs enger Freund Schostakowitsch. Sein zweites Klaviertrio in e-Moll op. 67 beschließt den gehaltvollen Abend. Zu Recht ist für seinen Biografen Ivan Martynow „das Trio wahrscheinlich das Allertragischste im Schaffen Schostakowitschs“. Denn neben der großen Trauer um seinen Freund Iwan Sollertinski verarbeitete er auch die Not und das Elend während des Zweiten Weltkriegs und verwendete im Finale ein Thema aus der jüdischen Volksmusik, Ausdruck des Schmerzes angesichts der Ermordung der Juden durch Hitler und Stalin. Anklänge an Gustav Mahler sind außerdem nicht von der Hand zu weisen. Sie sind eine Hommage an Sollertinski, der sich sehr für seine Musik einsetzte. Martha Argerich, Gidon Kremer und Mischa Maisky intonieren diese große Trauer und wie als Kontrast dazu die beißende Ironie und fratzenhafte Fröhlichkeit des zweiten Satzes außerordentlich intensiv und dicht, wobei gerade der Cellist mit einer großen Akkuratesse überzeugt und auf ein harmonisches Zusammenspiel achtet.

Nur scheint er auf diese Tugenden zu Beginn des Konzerts, bei Ludwig van Beethovens zweiter Sonate für Violoncello und Klavier in g-Moll op. 5/2, keinen allzu großen Wert zu legen. Denn hier stehen große, rein emotionale Tongebungen im Vordergrund, die zu Lasten von steter Intonationsreinheit und einem homogenen Zusammenspiel mit der Pianistin gehen. Argerich hingegen begeistert hier wie auch bei Weinberg und Schostakowitsch pianistisch mit hoher brillanter Virtuosität, einer variablen Anschlagskultur und einer tiefen Durchdringung des Notentexts.

Stehende, langanhaltende Ovationen sind der Dank an die drei Musiker, die seit Dekaden in der klassischen Musikszene mit im Vordergrund stehen, für einen gehaltvollen musikalischen Beginn des neuen Jahrs. Sie lassen sich nicht zweimal bitten und spielen traumhaft schön Franz Schuberts Lied Ich bin die Ruh‘ mit dem Deutsch-Verzeichnis 776 in einer Bearbeitung für Klaviertrio.

Hartmut Sassenhausen