Kulturmagazin mit Charakter
Aktuelle Aufführungen
AN BORD
(Diverse Komponisten)
Besuch am
12. Dezember 2022
(Wiederholung des Konzerts vom 11. Dezember 2022)
Sinfonieorchester Wuppertal, Historische Stadthalle Wuppertal
Martin Grubinger ist als Schlagzeuger für so gut wie alle Musikfreunde weltweit die Nummer eins. Überall sind seine Konzerte ein Publikumsmagnet. Auch in Wuppertal pilgern die Fans in Scharen zu ihm auf den Johannisberg zur Historischen Stadthalle, um für einen nahezu voll besetzten Großen Saal zu sorgen. Wahrscheinlich erleben sie ihn dort im Rahmen des vierten städtischen Sinfoniekonzerts mit dem Titel An Bord zum ersten und letzten Mal. Denn er hat sich ernsthaft vorgenommen, seine Karriere an den Nagel zu hängen, wenn er 40 Jahre alt geworden ist. Nächstes Jahr ist es soweit. Ab dann will er sich verstärkt seiner Schlagzeugprofessur am Salzburger Mozarteum widmen.
Man fiebert seinem Auftritt entgegen und ist gespannt, wie er mit dem riesigen Schlagwerkapparat umgeht, der die komplette rechte vordere Bühne belegt. Doch rund 20 Minuten muss sich das Publikum noch gedulden, weil das Sinfonieorchester Wuppertal zuvor mit einem Stück von Franz Schreker eröffnet: das sinfonische Zwischenspiel zu seiner Oper Der Schatzgräber, die 1920 uraufgeführt wurde. Zwei Jahre später verfasst er diese für rein konzertante Aufführungen gedachte Nummer, die hauptsächlich aus dem orchestralen Zwischenspiel aus dem dritten Akt stammt. Sie wurde vom Concertgebouw Orchestra unter der Leitung von Willem Mengelnberg im Oktober 1923 aus der Taufe gehoben. Diese knapp 15-minütige Musik mit ihren reichhaltigen Stimmungsbildern bringen die städtischen Sinfoniker unter Wuppertals Generalmusikdirektor Patrick Hahn mit festem Zugriff differenziert auf die Bühne. Schön changieren ruhige und energievolle Passagen, wenn auch kleine Stellen im Fortissimo etwas unausgewogen klingen. Und strahlte Hahn neben seiner präzise schlagenden rechten Hand mehr gefühlvolle, innere Gelassenheit aus, könnten bestimmt Schrekers ihm eigene Collagetechnik und raffinierte Instrumentationskünste noch deutlicher zu hören sein.
Patrick Hahn – Foto © O-Ton
Nach relativ kurzem Applaus wird zügig umgebaut, Pauken werden links neben dem Dirigentenpult aufgestellt. Grubinger ist sich nicht zu schade, dabei zu helfen. Ist alles erledigt, hat sich das Orchester wieder auf einen gemeinsamen Kammerton eingestimmt, wird er beim erneuten Betreten des Podiums mit frenetischem Beifall begrüßt. Diesen Vorschusslorbeeren wird der österreichische Multi-Perkussionist voll gerecht, als er das erst vor sechs Wochen in Helsinki uraufgeführte, aus drei Sätzen bestehende Konzert Inferno für Solo-Perkussion und Orchester aus der Feder des international gefeierten isländischen Komponisten und Dirigenten Daníel Bjarnason erstmalig in Deutschland vorstellt. Er hat es auf Grubinger maßgeschneidert, sich mit ihm während des Schaffensprozesses getroffen, seine Vorlieben und Ideen mit in die Komposition einfließen lassen. Traumwandlerisch sicher bewegt sich Grubinger um die vielen unterschiedlichen Becken, Trommeln, das Marimbafon, die baskische Txalaparta und etliche Perkussionsinstrumente mehr, wechselt dabei wieselflink die Schlagstöcke beziehungsweise Klöppel, um für immer wieder neue Klänge zu sorgen. Seine atemberaubende Virtuosität wirkt nie als reiner Selbstzweck, sondern steht stets im Dienst der vom Komponisten höchst komplexen rhythmischen Klanggestaltung. Sensible, nahezu kontemplative Momente im Piano wechseln mit markig-schlagenden, heftigen Ausbrüchen. Treibt er im ersten Teil vorwiegend nach vorne, geht es danach mit zwei Kollegen vom Sinfonieorchester links an den Pauken leise mystisch-versunken zu. Wieder zurück an der Schlagzeugbatterie, führt er schließlich das Stimmungsbild allmählich zu einem immer rasanter werdenden fulminanten Finale. Die dem Orchester zugewiesene Musik ist sehr fragil, dezent. Klangsplitter, Tonfetzen, mit dem Holz – col legno – der Bögen angeschlagene Saiten der Streicher, zarte langanhaltende Töne etwa seitens der Geigen und Celli oder eine sensible Schlagzeuggruppe korrespondieren und kontrastieren mit dem solistischen Spiel. Spannungsgeladen ist die Atmosphäre im Auditorium. Kein Mucks ist vernehmbar. Doch sofort nach dem letzten Perkussionsschlag gibt es kein Halten mehr. Mit Pfeifen, Grölen, bravi und nicht enden wollenden stehenden Ovationen wird wie bei Rock- und Popkonzerten der Ausnahmeschlagzeuger gefeiert. Nach einer Zugabe an der Marching Drum, einer höchst artistisch vorgetragenen, Rudiment genannten, Schlagzeugübung, setzt sich dieser Jubel fort.
Martin Grubinger – Foto © O-Ton
Danach steht Sergej Prokofjews 5. Sinfonie in B-Dur auf dem Programm, die bis zum Fall des Eisernen Vorhangs ganz im Sinn des politischen Systems in Osteuropa heroisiert wurde. Etwa ist in einem in der ehemaligen Deutschen Demokratischen Republik erschienenen Konzertbuch über das Opus 100 folgender Satz abgedruckt: „Diese Sinfonie ist vorm ersten bis zum letzten Takt ein tief beeindruckendes Werk des sozialistischen Realismus.“ Nicht von ungefähr ist diese Bewertung immer noch in vielen Köpfen fest verwurzelt, wenn in der damaligen Sowjetunion behauptet wurde, dass der Komponist hier das kompositorische Konzept eines „heroisch-epischen Bilds“ angewendet, ihm als Vorbild Aleyander Borodins 2. Symphonie gedient habe. Im ersten Satz sei ein ganz konkretes Programm, ein „Echo dramatischer Ereignisse“, offensichtlich. Musikalisch begründet wurde diese Behauptung allerdings nicht. Wegen solcher patriotischer Deutungen wurde sie als „Kriegssymphonie“ mit Dmitri Schostakowitschs 7. Sinfonie und Arjam Chatschaturjans 2. Sinfonie gleichgesetzt. „Die Fünfte Symphonie vermittelt seine volle innere Reife … Er blickt von der Höhe auf sein Leben und auf alles, was war, zurück. Darin liegt etwas Olympisches … Dabei geht es um Zeit und Geschichte, Krieg, Patriotismus, Sieg“, schrieb der legendäre Pianist Swjatoslaw Richter darüber. Heute sollte klar sein, dass solche sich immer wiederholenden Äußerungen rein ideologischer Natur waren und so das Werk während der Stalin-Ära propagandistisch zweckentfremdet wurde, zu Lasten der Musik selbst. Übrigens hat Prokofjew dieses Opus neutral als „eine Hymne an den freien und glücklichen Menschen, seine mächtigen Kräfte, seinen reinen und edlen Geist“ charakterisiert. Die Orchesterbesetzung mit großem Schlagwerk und unter Einbeziehung von Harfe und Klavier entspricht dem Standard des späten 19. Jahrhunderts. Der erste Teil mit seinem Sonatenhauptsatz im Andante steht ganz in der Tradition, konventionell in Form und der harmonischen Anlage bis auf den dissonanzreichen Höhepunkt der Durchführung. Der zweite Satz ist ein toccatenhaftes Allegro marcato. Im sich anschließenden Adagio entwickelt der Streicherapparat ein klangprächtiges Tongemälde. Freudig beschwingt mit burlesk-tänzerischen Zügen geht es im Finale weiter bis hin zum virtuosen, jubelnden Schluss.
Unter Hahns versiert schlagender Stabführung führt das städtische Orchester das Werk intensiv und dicht auf. Gerade im Piano, Mezzoforte und Forte gefallen schöne runde, geschmackvolle, durchsichtige Klänge. Auch die humorvollen Passagen, klanglicher Witz, leichtfüßig-lyrische Momente, geschmeidige Holzbläser- und Streicherlinien wie schwermütige Akzente werden kultiviert dargestellt. Nur im Fortissimo hapert es mitunter ein wenig an klanglicher Genauigkeit. Auch der dem Werk innewohnende tiefe musikalische Gehalt könnte etwas verständlicher vermittelt werden.
Für diese Aufführung gibt es zwar keine Begeisterungsstürme wie zuvor. Dennoch ist starker Beifall der zu Recht große Dank an alle Sinfoniker für ihr engagiertes Musizieren, die Hahn einzeln und in Gruppen nacheinander aufstehen lässt.
Hartmut Sassenhausen