Kulturmagazin mit Charakter
Aktuelle Aufführungen
ALL IVES
(Charles Ives)
Besuch am
16. Mai 2022
(Wiederholung vom 15. Mai 2022)
Sinfonieorchester Wuppertal, Historische Stadthalle Wuppertal
Wer neugierig auf weitgehend noch nicht bekannte Musik ist, hat im 9. Städtischen Sinfoniekonzert Wuppertals die Gelegenheit, auf Erkundungstour zu gehen. Denn ausschließlich Werke des US-amerikanischen Komponisten Charles Ives, der von 1874 bis 1854 lebte, werden präsentiert. Doch das Interesse der Musikfreunde daran hält sich Grenzen, ist doch der Große Saal der Historischen Stadthalle der Stadt nicht gut besucht. Aber diejenigen, die am Ort des Geschehens sind, können sich davon überzeugen, dass der hauptberufliche Versicherungskaufmann ein meisterhafter, experimentierfreudiger Komponist war. Nur wurden seine Tonschöpfungen selten aufgeführt, da zu seinen Lebzeiten generell US-amerikanische Musik nicht beliebt war, wie Generalmusikdirektor Patrick Hahn korrekt anführt. Auch seine weiteren einführenden Worte über Leben, Werk – explizit über die vorgestellte 2. Sinfonie – können als bekannt gelten, da sie schnell im Internet bei Wikipedia & Co. zu finden sind. Bariton Thomas Hampson, ein ausgewiesener Ives-Kenner, stellt ihn genauer als Menschen vor, der „unwahrscheinlich gläubig“ gewesen sei, deswegen seine Werke „mit tiefster Demut“ geschrieben habe. Unter anderem erklärt er, dass Ives Cowboys mochte, weil sie richtige, handfeste Kerle waren. Dagegen hatte er „wenig Geduld mit seichten Leuten“.
Aus dem riesigen Werkkatalog werden Stücke vorgetragen, die wie ein Querschnitt seine reichhaltige Tonsprache verdeutlichen. Für ihn gab es keine Grenzen zwischen U- und E-Musik. Disparate Klänge werden zusammengebracht, laufen simultan ab. Sämtliche Stilistiken sind gleichberechtigt. Bi- und Polytonalität wie Polyrhythmik und -tempik kommen vor. Es gibt keine Scheu vor vielen musikalischen Zitaten, die nach Art eines Mosaiks verarbeitet sind. Aber auch Kompositionstechniken alter Schule, die Horatio Parker ihm beibrachte, zeugen von seiner großen Meisterschaft.
Thomas Hampson – Foto © Jimmy Donelan
Drei reine Instrumentalwerke stehen auf dem Programm: die bereits erwähnte 2. Sinfonie, die eigentlich für Orgel komponierten Variations on America in der Orchesterfassung von William Schuman und Putnam`s Camp, Redding, Connecticut. Bei diesen drei Stücken mit ihren streckenweise extrem komplexen rhythmischen Strukturen und vertrackten Einsätzen gelingt dem hochkonzentrierten Sinfonieorchester ein ausgezeichnetes Zusammenspiel. Geht es um Lautstärken bis etwa zum Mezzoforte, überzeugt es außerdem mit einem durchsichtigen Gesamtklang. Dagegen kommen lautere Passagen nicht so differenziert von der Bühne. Dieses Manko liegt hauptsächlich am Dirigat des jungen Dirigenten Hahn. Er gibt zwar präzise Einsätze, schlägt die Takte und Tempoänderungen verständlich. Aber er vernachlässigt die Herausarbeitung fein aufeinander abgestufter Dynamiken. Ist etwa Forte vorgegeben, spielen alle Orchestergruppen diese Vortragsbezeichnung. So übertönen die Blechbläser und Schlagzeugabteilung stets die Streicher, auch wenn die an wichtigen Stellen deutlich hörbar sein müssten.
Genauso verhält es bei der kleinen Auswahl der insgesamt 114 Lieder für Klavier, die John Williams und Toshio Hosokawa für Orchester arrangierten. Spielen sämtliche Musiker sehr laut, sind die Gesänge wenig beziehungsweise gar nicht wahrnehmbar. Es wird also auf die Sänger keine Rücksicht genommen. Opernsänger Thomas Hampson, dessen Bariton viele für den schönsten der Welt halten, kann seine ganz große Klasse nur bei leisen Orchesterklängen zum Ausdruck bringen, etwa bei Serenity und At The River. Dann strahlt seine textverständliche, in allen Registern bewegliche Stimme, die selbst im Piano sehr tragfähig ist. Sehr ausdrucksstark und melodiös zeichnet er die Textinhalte nach. Mal gibt er sich narrativ, dann ist er lässig-leger, dann wiederum turbulent-hüpfend, zügellos, aber auch farbenreich-lyrisch. Diese mitreißenden Gesangsqualitäten werden nur übertönt, wenn es hinter ihm im Orchester laut zur Sache geht. Bei dem Song Charlie Rutlage formt er sogar seine Hände wie ein Megafon vor den Mund zwecks besserer Verständlichkeit. Es nützt nur nichts.
Genau so verhält es sich mit dem sehr engagierten, stimmgewaltigen Opernchor der Wuppertaler Bühnen. Bestens von Ulrich Zippelius präpariert, nimmt er vorne an der Rampe vor dem Orchester Aufstellung. Über links und rechts aufgestellte Monitore kann er das Dirigat Hahns mitverfolgen und feststellen, dass er sich auch bei den Choristen nicht um eine vernünftige dynamische Balance kümmert. Die harmonischen Gesänge werden bei General William Booth Enters Into Heaven oder They Are Three vom donnernden Schlagwerk und wuchtigen Bläsersatz zugedeckt. Auch bei den beiden Zugaben – die erste mit Hampson als Solist und die zweite mit ihm und dem Chor – ist der Pegel über Gebühr hoch.
Angesichts der erstklassigen Qualitäten der Orchestermusiker und sämtlicher Sänger sowie der Entdeckung der gehaltvollen, teils kurzweiligen Werke von Charles Ives sind die stehenden Ovationen zum Schluss gerechtfertigt.
Hartmut Sassenhausen