Kulturmagazin mit Charakter
Aktuelle Aufführungen
ABSCHLUSSKONZERT
(Diverse Komponisten)
Besuch am
7. Juli 2023
(Einmalige Aufführung)
In den 1970-er und 1980-er Jahren stand überall die Lebensweise, Kultur und Religion Indiens hoch im Kurs. Gurus wurden wie Heilige verehrt. Unter anderem trugen hierzulande manche rötliche Gewänder, um so ihren Glauben an die Lehre Bhagwans öffentlich zu bekennen. Auch die Musik Europas und Amerikas wurde davon beeinflusst. Die Jazzrock-Fusion-Band Mahavishnu Orchestra, der legendäre Musiker angehörten – Gitarrist John McLaughin, Geiger Jerry Goodman, Keyboarder Jan Hammer E-Bassist Rick Laird und Schlagzeuger Billy Cobham – war in aller Munde. Bereits 1965 erlangte die Scheibe der Beatles Sgt. Pepper’s Lonely Hearts Club Band binnen kurzem Kultstatus. Beispielsweise basiert der darauf verewigte Titel Within You Without You auf einer Komposition des indischen Sitar-Spielers und Komponisten Ravi Skankar. Des Weiteren ließen sich manche zeitgenössische Komponisten aus dem Bereich der ernsten Musik darauf ein. Einer von ihnen ist Philip Glass aus den Vereinigten Staaten, der am 31. Januar seinen 86. Geburtstag feiern durfte. Er traf 1965 in Paris Shankar, kam so mit indischer Musik in Kontakt und war beeindruckt von dem asiatischen Rhythmus- und Zeitverständnis. Zuvor studierte er bei Darius Milhaud und Nadia Boulanger. Schon damals distanzierte er sich von der Zwölftontechnik hin zur gemäßigten amerikanischen Moderne. Nun, nach der Auseinandersetzung mit Shankars Musikstil, ging er noch einen Schritt weiter. Seitdem beschränkt er sich auf kleine Musikelemente, einfache Motivbausteine und Harmonien die ständig mit nur kleinen Veränderungen wiederholt und zu riesigen Klanggemälden gesteigert werden. So entstanden unter anderem mehrstündige Tonschöpfungen. Mit dem Wort „Minimalismus“, das überall mit seiner Tonsprache gleichgesetzt wird, kann er nicht viel anfangen. Er spricht lieber von „Musik mit sich wiederholenden Strukturen“. Lange konnte er von der Musik nicht leben. Sein Geld musste er als Taxifahrer, Klempner und Möbelpacker verdienen, um komponieren zu können. Erst 1976 gelang ihm der Durchbruch mit dem Musiktheaterstück Einstein on the Beach. Dann ging es steil bergauf. Populär und heute noch in vieler Mund sind in Deutschland aus dem Jahr 1980 die oft als Friedensoper bezeichnete Satyagraha – nach dem Einstein-Werk der zweite Teil der Porträt-Trilogie, dem Akhnaten folgt. Auch der Film Koyaanisqatsi aus demselben Jahr war seinerzeit in. Regelmäßig saß man vor der Mattscheibe und verfolgte gebannt die Bildsequenzen in Zeitlupe beziehungsweise Zeitraffer von Städten und Naturlandschaften, die Glass exakt auf den Punkt gebracht mit dazu passender Musik versah.
Fünf Jahre später entstand der rund zweistündige Streifen Mishima: A Life in Four Chapters. Inhaltlich geht es um den letzten Tag des japanischen Schriftstellers Mishima Yukio, der am 25. November 1970 durch rituellen Selbstmord aus dem Leben schied. Außerdem kommen biografische Rückblenden und Auszüge aus drei seiner Romane – Der Tempelbrand, Kyōkos Haus und Unter dem Sturmgott – vor. Für den Soundtrack zu diesen drei Stilen verwendete Glass drei unterschiedliche Instrumentierungen. Die Rückblenden sind mit einem Streichquartett unterlegt. Bei den realen Sequenzen des letzten Tags erklingt ein Streichorchester mit Schlagzeug. Und bei den Roman-Szenen kommt ein großes Orchester zum Tragen. Teile dieser Musik kommen später in anderen Filmen und Fernsehsendungen vor. Etwa erklingt in dem Film The Truman Show von Peter Weir aus dem Jahr 1998 Mishima/Opening. Oder sie kommt in einer Episode der Fernsehserie The Robot – vier Staffeln in der Zeit von 2015 bis 2019 – vor. 1985 schuf Glass außerdem aus der Filmmusik sein drittes Streichquartett mit dem Titel Mishima. Vor fünf Jahren erschien auf CD eine Klavierfassung, arrangiert von Michael Riesman. Der 1943 geborene US-amerikanische Komponist, Dirigent, Keyboarder und Plattenproduzent ist ein langjähriger Mitarbeiter von Glass und unter anderem Leiter des renommierten Philip Glass Ensembles.
Im fast ausverkauften Großen Saal der Historischen Stadthalle in Wuppertal wird jetzt eine Version für Klavier und großes Orchester mit dem schlichten Namen M aus der Taufe gehoben, ebenfalls eingerichtet von dem ausgewiesenen Glass-Experten Riesman. Diese Uraufführung bildet den Höhepunkt des diesjährigen Abschlusskonzerts des Klavier-Festivals Ruhr, das das Stück in Auftrag gegeben hat.
Foto © Dana Schmidt
In dieser Fassung sind die drei Orchestrierungen variiert ebenfalls vorhanden: Streicherensemble allein, mit Schlagwerk beziehungsweise Bläsersatz. Hinzu integriert sich das Tasteninstrument, das vor allem während seiner Kadenzen in den Vordergrund tritt. Ansonsten kommuniziert es mit dem Klangkörper in Form von Dialogen oder setzt Kontraste zu großen Klangflächen. Pianistin Maki Namekawa, die auch für die Einspielung des erwähnten Albums verantwortlich zeichnet, korrespondiert hervorragend mit dem MDR-Sinfonieorchester, integriert sich sensibel in seine Klangstrukturen oder setzt präzise Kontrapunkte. Dabei sorgt Dennis Russell Davies, langjähriger Freund von Glass, qua seines präzisen und zuverlässigen Dirigats für facettenreiche, stets äußerst homogene Orchesterklänge, die hinsichtlich Akkuratesse und leichtverständlicher Durchhörbarkeit keine Wünsche offen lassen. Nie wirken die einfachsten harmonischen Strukturen und sich kaum verändernden Klanggemälde, die sich nur wenig verändern und andauernd wiederholt werden, langweilig. Denn unter anderem sorgen die orchestrierten Crescendi und Decrescendi – Zunahme beziehungsweise Abnahme der Zahl an Orchesterinstrumenten – für sorgfältig fließende Dynamikänderungen vom leisesten Piano bis zum kultiviert expressiven Fortissimo, die enorme Spannungen aufbauen. So wundert es nicht, dass es während des Vortags des Werks, das die Dauer der gesamten zweiten Konzerthälfte einnimmt, im Auditorium mucksmäuschenstill ist. Der letzte Ton ist noch nicht ganz verklungen, als hochverdienter frenetischer Beifall ausbricht, der in nicht enden wollenden stehende Ovationen mündet. Sie verebben erst dann allmählich, als es keine Signale für eine Zugabe gibt.
Auch während des ersten Teils des kurzweiligen Abends wird das Orchester des Mitteldeutschen Rundfunks seinem weit über die Landesgrenzen hinaus bekannten exzellenten Ruf in jeder Hinsicht voll gerecht. Denn wie bei dem Stück von Glass kommen auch hier zwei Klassiker der amerikanischen Musikliteratur unter dem versierten Dirigat von Russell Davies wie aus einem Guss von der Bühne. Mit einer satten, dennoch unaufdringlichen Tongebung erklingen mustergültig Leonard Bernstein populäre Sinfonische Tänze aus seinem Musical West Side Story. Leicht kann man eintauchen in die gefährliche Welt von konkurrierenden Banden oder der Sehnsucht eines Mädchens nach einer friedvollen Welt. Schwungvoll kommen Mambo und Cha Cha daher, bis schließlich im Finale das turbulente musikalische Geschehen friedlich endet. Anschließend geht es auf eine Rinderfarm der argentinischen Pampa. Alberto Ginastera fasste die Situation dort mit vier zu einer Konzertsuite zusammengefassten Tänzen aus seinem Ballett Estancia in Töne. Die Landarbeiter werden unter anderem durch pulsierende Rhythmen dargestellt. Eindrücke der Weite der Landschaft in der Morgensonne vermittelt der Weizentanz. Eine Kombination aus Schlagzeug und Blech widerspiegelt die Rinderzüchter. Und das Tanzturnier der Gauchos ist ein fetzig-rasender synkopierter Malambo. Wird schwelgerisch der zweite Tanz zu Gehör gebracht, geht es in den anderen Teilen ausgelassen, lebhaft, energiegeladen äußerst unterhaltsam zur Sache. Auch dafür spenden die begeisterten Zuhörer enthusiastischen Beifall.
Mit diesem Abend, der krönender Abschluss der Wuppertaler Konzertsaison ist, endet nach 28 Jahren offiziell die Tätigkeit von Franz Xaver Ohnesorg als Intendant des Klavier-Festivals Ruhr. Doch bevor ihm am 1. Januar 2024 Katrin Zagrosek, die mittlerweile am Festival-Programm im nächsten Jahr arbeitet, in gleicher Funktion folgt, ist noch nicht Schluss mit Abschiedsveranstaltungen. Drei Benefizkonzerte im Herbst und zwei Weihnachtskonzerte stehen noch auf dem Kalender. Nähere Informationen gibt es auf der Netzseite des Klavier-Festivals Ruhr.
Hartmut Sassenhausen