O-Ton

Kulturmagazin mit Charakter

Foto © Nik Schölzel

Aktuelle Aufführungen

Sündenbock vom Dienst

RUFEN SIE HERRN PLIM!
(Mischa Spoliansky)

Besuch am
23. Mai 2021
(Premiere)

 

Blaue Halle des Mainfrankentheaters Würzburg in der Dürrbachau

Wie begegnet man am besten übertriebenen Beschwerden und Ansprüchen von Kunden in einem Kaufhaus? Indem die Leitung einen Sündenbock vom Dienst einstellt, der als Schuldiger herhält, fiktiv gekündigt wird und so den ökonomischen „Schaden“ abfedert. So geschehen in der Kabarett-Oper Rufen Sie Herrn Plim! von Mischa Spoliansky nach einem Text von Kurt Robitschek und Marcellus Schiffer, uraufgeführt mit großem Erfolg 1932 in Berlin. Der Komponist, vielfach tätig in Kabaretts, Revuen, als Scheiber von Schlagern, etwa für Marlene Dietrich und später für Filmmusik, konnte sich nur kurz an seinen Erfolgen erfreuen. Denn als Jude musste er nach London emigrieren. Seine Oper verschwand durch die Nazis in der Versenkung. Aber die groteske Handlung und die schmissige, eingängige Musik im Stil der 1920-er Jahre sorgen auch heute noch für beste Unterhaltung.

Dass das Mainfrankentheater Würzburg die Kurzoper nach langem Corona-Stopp für seine Blaue Halle ausgewählt hat, erweist sich als Glücksgriff. Regisseurin Annika Nitsch belässt die Handlung in den so genannten Goldenen Zwanzigern, und die Ausstattung aus dieser Zeit von Feng Li unterstützt diesen Eindruck, sichtbar am Warenhaus-Interieur oder glitzernd gewandeten Schaufensterpuppen. Immer wieder erinnern die Songs, Chansons und schrägen, leicht jazzigen Musikstücke, schwungvoll gespielt vom Philharmonischen Orchester unter Gábor Hontvári an das, was damals in den vielen Unterhaltungstempeln der Metropole Berlin zum Amüsement des Publikums erklang. Doch hinter dem scheinbar harmlosen Spaß an dubiosen Verkaufspraktiken im Warenhaus Wertheim steckt massive Sozialkritik, an hierarchisch verkrusteten Strukturen, an hemmungslosem Gewinnstreben, und auch die kommenden schlimmen Zeiten des braunen Terrors sind irgendwie schon zu ahnen. Die Inszenierung verstärkt das noch durch viele kleine Andeutungen. Denn der Herr Plim ist Jude, und er wird von Direktor und Personalchef nur dazu angestellt, die übersteigerten Ansprüche der Kunden dadurch zu besänftigen, dass der angeblich Verantwortliche dafür, also Herr Plim, scheinbar fristlos entlassen, aber danach immer wieder beschäftigt wird. Auf ihn prasseln also die Anschuldigungen der Käufer ein; er fungiert als Blitzableiter, so wenn sich die Präsidentin des Hausfrauenverbandes darüber beschwert, dass sie zu ihrem Essgeschirr nicht den passenden Nachttopf bekam, oder wenn ein männlicher Kunde es skandalös findet, wenn der Selbstbinder nicht von selbst funktioniert und eine Verkäuferin sich weigert, vor ihm einen Seidenschlüpfer anzuprobieren, oder auch wenn eine illustre Kundin es als Frechheit empfindet, dass ihr ein Knopf nicht zugeschickt wurde. Die von der Direktion bestellten Reaktionen von Herrn Plim reichen von devot, zerknirscht über Mitleid heischend bis unverschämt – aber alles wirkt nicht wie gewünscht. So soll er nun wirklich entlassen werden. Doch durch seine Tränen erreicht er seine Wiedereinstellung. Leider aber ist die „Moral“ der Geschichte durch die Inszenierung etwas zu dick aufgetragen, wenn alle Mitwirkenden nach dem unwahrscheinlichen, aber wohl eigentlich ironisch gemeinten Happyend Plakate hochhalten mit den heute üblichen Protest-Aufschriften. Kritik an Menschen verachtendem Verhalten ergibt sich von selbst aus dem Stück.

Als echtes komödiantisches Talent erweist sich Mathew Habib als Herr Plim, und er gibt seinen Gesangsnummern durch Stimmfärbung und Aussprache die nötige kabarettistische Ausstrahlung. Daniel Fiolka als Warenhausbesitzer und Hinrich Horn als Personalchef stehen ihm hinsichtlich stimmlicher Ausdruckskraft und schlüssiger Darstellung in nichts nach; letzterer hat sich vergafft in die köstlich ihr „Jawoll, Herr Chef!“ daher zwitschernde Verkäuferin, Scherhezada Cruz. Nach dem ersten empörten Käufer, Kosma Ranuer, steigert sich der zweite, Roberto Ortiz, noch in seinen unverschämten Anschuldigungen. Schlimmer noch als die Männer treten die Damen auf: Silke Evers als Caroline von Recklitz lässt ihren „Adel“ spüren und markiert mit viel Emphase in ihren nie grellen Sopran-Höhen den Zustand des Außer-sich-Seins, und Akiko Tsujii als überkandidelte, hysterische Elida von Coty imponiert den Herren nicht nur mit glasklaren, spritzigen Koloraturen. Das Personal wird abgerundet und belebt durch Veronika Brandhofer und Natalia Boldyrieva als interessierte Kundin und schicke Rezeptionistin oder als aufdringliche Skandalreporter.

Das pandemiebedingt reduzierte Publikum zeigt lange Begeisterung.

Renate Freyeisen