O-Ton

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Foto © Andreas Herold

Aktuelle Aufführungen

Sieg der Gewalt

THE RAPE OF LUCRETIA
(Benjamin Britten)

Besuch am
1. Juli 2022
(Premiere)

 

Theater in der Bibrastraße, Würzburg

In einem englischen Elite-Internat erhalten Schüler im Unterricht Einblick in die antike Tragödie der Lucretia aus dem Jahr 510 vor Christus. Um diese besser zu verstehen, schlüpfen sie in die Rollen der Protagonisten. Dennoch bleiben am Ende Fragen offen. Das ist die Lesart der Oper The Rape of Lucretia von Benjamin Britten durch Regisseurin Katharina Thoma im Würzburger Theater in der Bibrastraße der Hochschule für Musik. Die Kammeroper in zwei Akten für dreizen Orchester-Musiker und acht Gesangs-Rollen eignet sich bestens für die Sommerproduktion des Opernstudios. Einen Chor gibt es nicht, dafür verteilen sich die kommentierenden und erzählerischen Passagen auf je einen Tenor und einen Sopran. Sie erläutern das Geschehen aus der Distanz eines neuzeitlichen, christlichen Standpunkts. Im Mittelpunkt steht das von vielen Künstlern aufgegriffene Drama um die keusche Lucretia; der Sohn des etruskischen Gewaltherrschers über Rom, Tarquinius Superbus, will die Tugend der schönen Lucretia, Ehefrau des Collatinus zerstören, denn er hält alle Frauen für Huren, dringt unter einem Vorwand in ihr Haus in Abwesenheit ihres Mannes ein, vergewaltigt sie, und als sie am nächsten Morgen ihrem Gatten die Untat und ihre unverbrüchliche Liebe gesteht, will sie nicht mit der Schande weiterleben, sondern bringt sich um. Ihr Tod, angeblich einer der Auslöser für einen Volksaufstand in Rom, wird von Britten und seinem Librettisten Ronald Duncan am Schluss zum Anlass genommen, einen Ausweg aus dem Machtmissbrauch zu zeigen, nämlich den christlichen Erlösungsglauben. Doch ein solcher Gedanke stimmt eher skeptisch, betrachtet man den Lauf der Weltgeschichte. Vielleicht verhieß der christliche Glaube auch 1946, nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs und zum Zeitpunkt der Uraufführung, eine gewisse Hoffnung.

Foto © Andreas Herold

Auch wenn die Handlung der Oper und ihr Ende heute vom Publikum weniger angenommen werden, ist das ganze Werk musikalisch äußerst reizvoll. Es changiert zwischen Anspielungen auf den Frühbarock, etwa auf Purcell in der großen Passacaglia im Schlussbild oder in ariosen und rezitativischen Stellen und illustrierenden Passagen, etwa beim Herannahen des Tarquinius oder der „romantischen“ Morgenstimmung und dem immer wieder aufscheinenden Leitmotiv der Lucretia. Dass hier aus heutiger Betrachtung erzählt wird, verdeutlichen das sehr geschickte, wandlungsfähige Bühnenbild und die Kostüme von Ausstatterin Verena Hemmerlein. Anfangs sind rechts und links die beiden Chor-Erzähler hinter Redner-Pulten positioniert; sie mischen sich aber bald ins Geschehen ein. Auf schwarzen Blöcken sitzen die Schüler in Schuluniformen mit Emblemen ihres Internats, verfolgen den Geschichtsunterricht. Danach verkleiden sie sich in die Figuren der Handlung mit antik wirkenden Kostümen, etwa als Krieger oder Römerinnen. Dabei weitet sich ihr Horizont: Eine Art Podest in der Mitte der Bühne stellt zuerst das Heerlager dar, in dem die Unterhaltung der Offiziere sich, vom Wein beflügelt, immer mehr um Liebe und die lasterhaften Frauen in Rom dreht; nur eine Ausnahme gibt es: Lucretia. Das reizt den Prinzen Tarquinius immer mehr, ihre Treue zu erproben. Sein Ritt nach Rom und die Überquerung des Tiber, angedeutet mit Bewegungen und einfachen Mitteln, gestützt durch die Musik, führt hin zum zweiten Bild, dem Haus der Lucretia, in dem sie und ihre Dienerinnen typisch weibliche Tätigkeiten verrichten, wie das Ausbreiten und Falten weißer Leinenbahnen. Mit ihnen umhüllen sie schließlich das Gestänge des Podests, so das daraus eine Art Gehäuse entsteht, das Schlafgemach der Lucretia, ein intimer, geschützter, abgeschirmter, privater Bereich. Da dringt später Tarquinius ein, zerrt Lucretia heraus und vergewaltigt sie. Im Vorgriff auf das kommende Verbrechen veranstalten inzwischen die Internats-Zöglinge eine Demo gegen die Etrusker zu einer Projektion des antiken Rom. Die Vergewaltigung selbst findet zu schrillen Klängen statt, angeklagt als Sünde unserer Natur. Einen starken Kontrast zu der düsteren Nacht bildet der kommende, strahlende Morgen mit hellem Licht; die Dienerinnen arrangieren Blumen, Symbole der Reinheit. Doch trotz der beschwörenden Worte von Collatinus und Junius kann sich Lucretia nicht beruhigen. Sie braucht das Leben nicht mehr und ersticht sich. Ist das alles? fragt der Text, und an den aufgestapelten Blöcken wird daraufhin das Gewand der Lucretia aufgehängt, wie eine Erinnerung an Christi Tod und gleichzeitig Hoffnung auf eine bessere Zukunft. Ob sich diese erfüllt, bleibt zweifelhaft. Ganz sanft klingt die Musik nach der menschlichen Tragödie aus.

Mit eindrucksvollen Bildern und einer bis ins Kleinste durchdachten bewegten Personenführung ist die Oper nicht nur optisch beeindruckend, sondern auch musikalisch spannend. Das Projektorchester, geleitet von Andreas Hotz, musiziert aufmerksam, klangschön und fein abgestuft. Die beiden Erzähler, stets präsent im Geschehen, der kraftvolle Tenor Alexander Geiger mit differenzierter Gestaltung, und sein weibliches Pendant, der warm timbrierte Sopran von Kyoungmin Choi, gefallen sehr mit ihren unaufdringlichen Kommentaren zum Geschehen. Gustavo Müller setzt seinen großen Bassbariton mit viel Verve ein, sein Freund Junius, Jakob Ewert, überzeugt sehr mit seinem schön timbrierten Bariton. Die Rolle des „bösen“ Vergewaltigers erfüllt Dong Won Seo, ein eher lyrischer Bariton, mit viel Einsatz. Aleksandra Nygaard Djordjevic verfügt über einen nicht allzu dunklen Mezzosopran; ihre Lucretia gefällt vor allem durch die glaubhafte Darstellung. Bestens unterstützt wird sie durch ihre Amme Bianca, Nadine Süssenbach, einen fein abgestuften Mezzosopran, und ihre Dienerin Lucia, Yisae Park, einen hellen Sopran, der ariose Linien und hohe Verzierungen sicher gestalten kann.

Das Premierenpublikum im nicht ganz voll besetzten Saal ist hell begeistert und feiert alle Mitwirkenden lang mit vielen Bravo-Rufen.

Renate Freyeisen