O-Ton

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Foto © Nik Schölzel

Aktuelle Aufführungen

Verstörende Liebe

EUGEN ONEGIN
(Peter Iljitsch Tschaikowski)

Besuch am
4. Juni 2022
(Premiere)

 

Theaterfabrik Blaue Halle des Mainfranken-Theaters Würzburg

Lyrische Szenen nennt Peter Iljitsch Tschaikowski sein dreiaktiges Musikdrama Eugen Onegin, uraufgeführt 1879, nach dem gleichnamigen Versroman von Alexander Puschkin. Der Komponist lässt die Handlung um die tragische Liebe zwischen Tatjana und Onegin um 1820 in Russland spielen, und im Mittelpunkt des Werks, das er bewusst von der Großen Oper und vom Realismus abgrenzt, stehen die poetische Stimmung, die romantische Atmosphäre, verstärkt durch Anklänge an die russische Volksmusik.

In der Blauen Halle des Mainfranken Theaters Würzburg betont Regisseurin Agnessa Netjodov bei ihrer Inszenierung die emotionsgeladenen Konflikte stark. Gefühle werden erträumt, herbeigesehnt, enttäuscht, zu spät erkannt oder missdeutet. Für diese „brodelnden“ Emotionen und gefühlsbeladenen Gedanken hat sich die Regie einen eigenen Raum über der Spielfläche erdacht und die Handlung im Grund von historisch-gesellschaftlichen Bezügen befreit. Das überzeugt nicht immer. Aber eines stimmt: Traum und Realität prallen in dieser Oper schmerzhaft aufeinander. Die Spaltung in eine Welt des Gefühls, der Emotionen und des Alltagslebens drückt sich aus in zwei Orten auf der Bühne, in einem weißen, etwas erhöhten, leeren Raum, einer Art Guckkasten, und eine untere, weitgehend dunkle Ebene, wo etwa das Landgut der Larina oder das städtische Palais des Gremin angesiedelt sind. Leider ist das, was das Bühnenbild von Volker Thiele ausdrücken will, etwas zu abstrahiert sachlich und schematisch geraten, vor allem bei der langen Festtafel des auf dem Boden sitzenden Landvolks. Da fragt man sich dann auch, warum der angeblich alte Fürst Gremin beim Ball an einem schäbigen Tisch sitzt und in seinem hellen, sportlichen Outfit eher an einen durchtrainierten Best Ager erinnert, während seine Gattin Tatjana in einem langen, silbrigen Glitzer-Fummel auftritt unter Leuten, die eher schlicht in schwarzen Mänteln daherkommen. Die Kostüme von Nicole von Graevenitz zeigen einerseits für die Landbevölkerung meist saubere, einheitliche Kleidung in Schwarz-Weiß, in der Stadt aber wird das Volk zur einer hin- und her wogenden schwarzen Masse. Alle Personen scheinen äußerlich einem unbestimmten Heute zu entstammen. Anfangs wird bei Tatjana ihre mädchenhafte Unschuld durch ein weißes Hemd, einen hellen Trägerrock und einen hellrosafarbenen Mantel unterstrichen, während Olga in hellem, langem Sommerkleid samt buntem Schal die etwas selbstbewusstere der Töchter der Larina darstellt; die trägt ab und zu Rot, nur die gemütliche Kinderfrau Njanja ist bäuerlich gekleidet. Innere Seelenzustände und Wirklichkeit stoßen in dieser Inszenierung auch räumlich aufeinander, und auch sonst werden Zusammenhänge eher stilisiert angedeutet als realistisch vermittelt. Das verwirrt oft; manchmal wirken die Szenen nur wie symbolisch bebildert, etwa beim Beeren-Lesen auf dem Land oder beim Tanz in kahl-nüchterner Umgebung in der Stadt, wo Tatjanas schicke Aufmachung gar nicht passt. Dagegen aber gelingt die Personenführung sehr lebendig; übertrieben jedoch ist der wild ausufernde Tanz von Olga und Onegin und dessen scheinbar irres Gebaren mit Lachen und Hin- und Herlaufen vor dem Duell mit Lenski.

Die eigentlich rundum befriedigende Seite dieser Opernaufführung bildet die hervorragende musikalische Umsetzung durch Enrico Calesso am Pult des bestens aufgelegten Philharmonischen Orchesters Würzburg. Die wunderbar dahinschmelzenden lyrischen Klänge, die feinen Abstufungen und vor allem die diversen Bläser-Soli, etwa der Flöte, unterstreichen und begleiten die Gefühle der handelnden Personen.

Als Tatjana gefällt und begeistert Silke Evers mit ihrem rundum glänzenden, großen, nie angestrengten Sopran und einer subtilen Gestaltung; auch äußerlich kann sie herrlich das schwärmerisch liebende junge Mädchen in all seinem Überschwang darstellen, während sie als arrivierte Fürstin Würde ausstrahlt und im Verzicht auf Onegin glaubhaft wirkt. Ihre Schwester Olga wird von Marzia Marzo mit etwas schmalem, hellem Mezzosopran sicher gesungen und als ein wenig unbedachte, eigenwillige junge Frau gut verkörpert. Die Rolle ihrer Mutter Larina ist bei Barbara Schöller und ihrem angenehmen Mezzosopran bestens aufgehoben; ein großes Plus ist Elisabeth Mertens als wunderbare Kinderfrau Njanja, ihre warme Stimme und ihre unaufgeregte, gemütvolle Art passen in jeder Beziehung zu diesem Ruhepol der ganzen Geschichte. Für den Bariton Hinrich Horn bedeutet die Partie des Eugen Onegin ein Debüt. Das bewältigt er mit seiner schön timbrierten, angenehmen Stimme sehr nuanciert, sicher ohne Übersteigerungen und überzeugt auch mit seinem anfangs lockeren, forschen, leichtsinnigen, später immer verzweifelteren Auftreten. Sein Freund Lenski wird von ihm im Duell erschossen; Roberto Ortiz, mit Brille und Strubbelhaar, wirkt wirklich wie ein übersensibler, weltferner Dichter, und sein heller Tenor mit vielen lyrischen Momenten passt hervorragend in diese Rolle. Igor Tsarkov als Gremin hat im dritten Akt seinen großen Auftritt bei der berühmten Arie, und er bewältigt sie mit seinem vollen Bass gut. Hauptmann und Sekundant sind bei Taiyu Uchiyama bestens aufgeboben. Ein Extralob aber haben Chor und Extrachor des Mainfranken Theaters verdient, einstudiert von Sören Eckhoff: Ständig in Bewegung und beschäftigt, vermögen sie die stimmungsvollen Lieder mit viel Ausdruck zu gestalten und dabei mit differenziertem Klang zu berühren.

Das Premierenpublikum im nicht ganz besetzten Saal – Beginn der bayerischen Pfingstferien! – jubelt lang und begeistert über diese musikalisch sehr stimmige Oper in russischer Sprache mit deutscher Übertitelung in etwas ungewohnter Übersetzung. Dass am Schluss bei den vielen Vorhängen die ukrainische Fahne gezeigt wird, ist wohl mittlerweile wohlgemeinter Usus.

Renate Freyeisen