O-Ton

Kulturmagazin mit Charakter

Foto © Nik Schölzel

Aktuelle Aufführungen

Liebenswerter Komödiant

CHAPLIN!
(Dominique Dumais)

Besuch am
15. April 2023
(Premiere)

 

Blaue Halle des Mainfrankentheaters Würzburg

Liebenswert, ungewollt komisch, in seiner äußeren Erscheinung mit Hut, Fliege, Weste und Spazierstock ein grotesk-elegantes Wunschbild, denn dazu passen die zu weiten Hosen und zu großen Schuhe und die ungeschickten Bewegungen nicht – das ist Charlie Chaplin, ein melancholisch-sensibler Held, wie man ihn aus seinen Filmen kennt, Kontrastfigur zu den Vorstellungen von heiler Welt, gleichzeitig aber auch ein Mahner, dass man Menschlichkeit unbedingt anstreben sollte.

All das kommt zum Ausdruck in dem neuen Ballett von Dominique Dumais in der Blauen Halle des Mainfranken-Theaters Würzburg; nicht umsonst ist der Titel mit einem Ausrufezeichen versehen. Der Choreografin geht es vordergründig nicht so sehr um die drollige, skurrile Figur des gesellschaftlich am Rande stehenden Tramps, des unbeholfenen Landstreichers, der immer wieder irgendwie auf die Füße kommt, sondern um die positive Botschaft, die er ausstrahlt. Auch deshalb ist es nicht abwegig, dass die Figuren des Chaplin in vielgestaltiger Form auftreten. So verkörpern alle Tänzer der zwölfköpfigen Ballettkompagnie immer wieder einmal Chaplin, verwandeln sich in dessen Äußeres, agieren mit dessen unverwechselbaren Attributen, vor allem mit dem Stock, drücken so aus, dass in jedem ein Stück Chaplin stecken kann, der sich wehrt gegen äußere Einflüsse. Die Würzburger Ballettchefin hat für ihre Choreografie Chaplins Bewegungssprache durch genaue Analyse seiner Filme untersucht. Wichtig erscheint ihr das Timing für die Darstellung der Missgeschicke, die gerade die komödiantische Ausstrahlung ausmachen, also das „richtige Ausrutschen, Stolpern und Fallen“, bei gleichzeitiger Vermeidung von Verletzungen. Was nicht angestrebt ist: Eine Nacherzählung der berühmten Film-Klassiker von Chaplin oder auch eine biografische Annäherung an den Lebenslauf des großen Humoristen. Sie möchte den Humanisten hervorheben, den Menschenfreund, der sich wehrt gegen Unterdrückung, Hass und Intoleranz. Auch deshalb wird im zweiten Teil des Abends Charlie Chaplins aufrüttelnde Abschlussrede aus seinem Film Der große Diktator von 1940 gegen Hitler und andere Gewaltherrscher vorgespielt und währenddessen im Tanz nachvollzogen als authentisches Zeugnis. Außerdem wird Chaplins eigene Musik für seine Filme City Lights, The Kid, Modern Times vom Orchester gespielt. Obwohl Chaplin nie Unterricht in Musik hatte, konnte er verschiedene Instrumente spielen aufgrund seiner Prägung in der Kindheit, und er interessierte sich immer für Musik. Sie war anfangs ein wichtiges dramaturgisches Mittel für seine Stummfilme, und später komponierte er selbst Musik für seine Filme. Er entwarf zum Beispiel zarte, romantische Streicherklänge als Gegensatz zum komödiantischen Klamauk, denn er wollte überraschende Spannung aufbauen, einen Kontrast zum Auftritt des Tramps schaffen.

Für ihre neue Ballettproduktion aber erscheint Dumais die Wahl weiterer Musikstücke passend, so von Nino Rota, György Ligeti, Henry Purcell bis hin zu George Enescu, der mit seiner wilden, immer mehr und schneller gesteigerten Rumänischen Rhapsodie Nr. 1 für einen markanten Abschluss sorgt. Nicht fehlen dürfen als stimmungsvoller Hintergrund auch Beethovens Klavierkonzert Nr. 3, das Chaplin als großartiges Kunstwerk schätzte, und ebenso Ravels Klavierkonzert G-Dur, einfühlsam in einigen Sätzen gespielt von Silvia Vassallo Paleologo, sowie Tschaikowskys Nocturne Op. 19, vorgetragen am Cello von Deanna Talens, als träumerischer, romantischer, etwas melancholischer Hintergrund zum Auftreten des vielgestaltigen Tramps mit all seinen Sehnsüchten. Die musikalischen Nummern werden recht abwechslungsreich gestaltet vom Philharmonischen Orchester Würzburg unter der aufmerksamen Leitung von Enrico Calesso, der auch mit Hütchen am Pult mal mitspielen und ein schräges italienisches Liedchen singen darf; auch Alltagsgeräusche sind ab und zu hören.

Bildlich dominiert wird das Ballett vom Aussehen Chaplins in der Rolle des gutwilligen Tramps, einer Gestalt in vorwiegend schwarzer Kleidung, die in sich ein Sammelsurium von Widersprüchen darstellt, mit weiten Hosen, Weste und Mantel sowie kleinem Derby-Hut, weißem Hemd und viel zu großen Schuhen. Ausstatterin Verena Hemmerlein sieht darin auch eine Parallele zu Chaplins armer Herkunft; selbst Spazierstock und Fliege können da keine Eleganz vortäuschen. Dagegen erscheint die Gesellschaft um die Chaplin-Figur herum in bunter Kleidung, in gedeckten Farben und eher zeitlos. Aber diesen Menschen, die wohl dieselben Bedürfnisse haben wie er in ihrer Hektik und Selbstbezogenheit, begegnet der Tramp eher distanziert. Alles spielt sich auf der relativ leeren Bühne von Hemmerlein ab in einem imaginären Rahmen, mit Anspielungen auf das Film-Milieu in Ankündigungen oder durch Scheinwerfer; manches erinnert an weltumspannende Bekanntheit der Chaplin-Filme durch eine Erdkugel, an die faszinierende Wirkung durch ein leuchtendes Blau, an Surreales wie bei Magritte-Bildern mit Wolken oder Hut; beim Träumen Chaplins von Schönerem ist ein Ballon im Einsatz, der doch schließlich platzt, und Türen erlauben lustige, neckische Veränderungen. Kahle Bäume oder Aschenregen als Hintergrunds-Projektion kündigen Deprimierendes an, während der Widerstand gegen einen Sturm, gegen den alle Chaplin-Figuren nicht ankommen, erst durch einen Engel gebremst werden kann; die Hinterlassenschaften dieses Sturms werden schließlich energisch und lautstark mit großen Besen im Takt weggekehrt, der an die Maschinen im Film Moderne Zeiten erinnert.

Schatten im Scheinwerferlicht verweisen auf die flüchtige Wirkung von Chaplins Visionen. Als „feste“ Auftrittspattform mit Durchblick dient ein halbhohes Podest mit Treppe und Rutsche an den Seiten. Viel Erheiterung rufen die Möglichkeiten, mit dem Stock zu spielen, hervor. Dabei wird von den Tänzern viel Präzision verlangt: Sie benutzen diese Stöcke rhythmisch oder in Formation als Bewegungselement, können damit Annäherungen forcieren, auch Vereinzelung ausdrücken. Oft aber rennen die Akteure schnell hin und her, manchmal zu lange, finden sich kurzzeitig zu Hebefiguren zusammen, tragen leichtfüßig und fröhlich eine Jagd nach den Hüten aus, treffen sich in raschen Bewegungsabfolgen, variieren die Geschwindigkeit, formieren sich zu Gruppen, trennen sich wieder, führen mit dem Ballon ein Traum-Sehnsuchtsspiel auf, wechseln von Übermut in Melancholie, bilden Paare. Alles wird punktgenau in rasantem Tempo gestaltet.

Nach den Auftritten durchs Publikum wirbeln die vielen Chaplin-Gestalten gutgelaunt herum; es wird auch öfter gelacht. Vor der großen Rede Chaplins aber wird das Bild düsterer; doch die Auftritte Chaplins verzaubern die Menschen durch die grotesken Einfälle und den Humor, und in immer schnelleren, wild dahinjagenden Bewegungen mit hohen Sprüngen finden endlich alle „Chaplins“ nach dem Hochwerfen der Hüte zur positiven Ruhe und menschlicher Gemeinsamkeit.

Nach diesem Tanz-Wirbel um die Figur und Wirkung Chaplins ist der Beifall im voll besetzten Haus lang, laut und riesig begeistert!

Renate Freyeisen