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DER ARME MATROSE
(Diverse Komponisten)
Gesehen am
14. Mai 2021
(Premiere/Stream)
Es gibt eine gute Nachricht. Je länger der Lockdown dauert und je näher die nächsten Budget-Verhandlungen rücken, desto eher sehen die Theater sich – endlich – in der Pflicht, sich mit digitalen Formaten auseinanderzusetzen, um ihre Zuschauer zu erreichen. Ganz langsam setzt sich die Erkenntnis durch, dass das Digitale nicht wie ein Alptraum wieder verschwinden wird, wenn die Corona-Krise endlich überwunden ist. Das Mainfranken-Theater in Würzburg zeigt seinen Entwicklungsstand in Sachen Digitalität jetzt mit einem Opernfilm. Nach heutigem Kenntnisstand vorbildlich. Denn ein großes Hindernis ist bis heute nicht wirklich überwunden. Wer sein Produkt auf einer der Videoplattformen einstellt, hat so gut wie keine Möglichkeiten, das Publikum zu erreichen. Da läuft halt ein Filmchen unter vielen, und dafür sind die Produktionen, egal, wie hochwertig sie sind, viel zu teuer. Die Videoplattformen selbst entwickeln sich nicht schnell genug, haben eigentlich auch kein echtes Interesse, Umgebungen zur Verfügung zu stellen, in denen ein Video in einen Kontext gestellt werden kann.
Das Mainfranken-Theater behilft sich, indem es versucht, die Besucher auf seine Webseite zu ziehen. Dort gibt es tatsächlich all die Informationen, die das Publikum erwarten darf. Und das Theater geht einen entscheidenden Schritt weiter. Gemeinsam mit der Fakultät Informatik und Wirtschaftsinformatik der Hochschule für angewandte Wissenschaften Würzburg-Schweinfurt hat es die technischen Möglichkeiten für eine Einführung und ein Nachgespräch geschaffen. Da ist noch längst nicht alles Gold, was glänzt. Gerade die wissenschaftliche Leistung erstaunt. Abgesehen davon, dass das Ambiente eher an den Keller einer Geheimdienst-Behörde erinnert, hätte man lieber auf Spielereien wie eine 360-Grad-Kamera verzichten und mehr Wert auf saubere Bilder und eine akzeptable Tonqualität legen sollen. Aber der Zuschauer kann einen kompletten Theaterabend erleben, erhält die Informationen, die er von einem Theaterbesuch gewohnt ist und kann sich endlich auch mal wieder ein bisschen über die Plattitüden ärgern, die an einem Premierenabend wie Pfeile durch die Säle flitzen. Im Ernst: Hier können sich nicht nur andere Häuser, sondern vor allem auch Festivals ein Beispiel nehmen, wie man einen geeigneten Rahmen für eine Produktion schaffen kann. Verbesserungsmöglichkeiten gibt es auch hier noch jede Menge, vor allem, was die grafische Aufbereitung angeht. Aber ein großes Lob gilt denen, die hier einen entscheidenden Zwischenschritt gewagt und geschafft haben.
Galt eine improvisierte Übertragung bislang als akzeptiert, weil der Umschwung so „plötzlich“ kam und in den wenigsten Häusern filmisches Know-how vorhanden ist, wandelt sich das Bewusstsein allmählich. Es ist halt doch schöner, eine professionell gefilmte Netflix-Serie zu sehen oder eine CD in das Hochleistungsabspielgerät einzulegen, als sich mit dumpfen Bildern eines Hobby-Filmers von der Bühne zu quälen. Noch gibt es viele Menschen, die aus Solidarität zu „ihrem“ Theater auch die teilweise abstrusen filmischen Erzeugnisse im Internet anschauen. Aber es werden weniger. Und so trifft das Staatstheater in Würzburg die einzig richtige Entscheidung. Ein professioneller Filmemacher wird beauftragt. Stefan Boseckert hat sich zwar noch nie filmisch mit Musiktheater befasst, aber er ist vor Ort, verfügt über ein breites Portfolio, Fantasie und vor allem über Kenntnisse darüber, wie man auch ein Theater filmisch ins rechte Licht setzt. Kenntnisse, die den Lichtsetzern im Theater bislang häufig noch völlig unbekannt sind, wie viele Videos auf den entsprechenden Plattformen zeigen.
Der arme Matrose ist eine Kurzoper von Darius Milhaud, die auf einem Text Jean Cocteaus beruht und 1927 in Paris uraufgeführt wurde. Auf dieser Basis wurde in Würzburg eine szenisch-musikalische Reise mit Musik von Darius Milhaud, Ludwig van Beethoven, Franz Schubert und Dmitri Schostakowitsch entwickelt und verfilmt. Die Geschichte ist so einfach wie raffiniert. Ein Mann kehrt nach 15 Jahre nach Hause zurück. Dort gilt er längst als verschollen. Er hat sich in der Zeit stark verändert, und so erkennt ihn die liebende Ehefrau nicht, sondern hält ihn für den wohlhabenden Kameraden des als verarmt geschilderten Matrosen. Die Heimkehr geht tödlich aus.
Tomo Sugao legt in seiner Regie Wert darauf, den theatralischen Bezug im Film beizubehalten. Paul Zoller baut dazu szenische Orte im Theater. Einen Raum, der als heruntergekommene Bar durchgehen könnte, einen Versammlungsraum, einen Keller und so weiter. Hier lässt er die Protagonisten in den Kostümen einfacher Leute auftreten. Ein Fellini wäre weitergegangen, aber auch so wird klar, dass die Handlung nicht im Schloss stattfindet. In diesem Ambiente lässt Sugao viel Blut fließen, nicht immer gerechtfertigt, aber eindrucksvoll. Boseckert versucht, daraus starke Bilder zu gewinnen, setzt dabei vor allem auf Nahaufnahmen, die mitunter ein wenig viel werden. Um die Dramatik zu steigern, kommen später Überblendungen dazu. Und wenn das letzte Lied erklingt, haben Sugao und Boseckert die Zuschauer vollständig in ihren emotionalen Bann gezogen.
Der überproportionale Aufwand, der mit dieser Produktion betrieben wird, setzt sich auch bei den Sängerdarstellern fort. Um die Tonqualität sicherzustellen, Tobias Heß sorgt für ein hervorragendes Klangdesign, werden Lieder und Arien gesondert eingesungen. So können Tenor Roberto Ortiz, Sopranistin Silke Evers, Bassbariton Kosma Ranuer und Bass Igor Tsarkov nicht nur ihre brillanten Stimmen mühelos erklingen, sondern sich anschließend auch ganz auf ihr Schauspiel einlassen, was dem Film eindeutig zugutekommt.
Auch für Generalmusikdirektor Enrico Calesso ist diese Produktion Neuland, die ihn allerdings nach eigenen Worten dem Gesamtkunstwerk Musiktheater noch einmal ein ganzes Stück nähergebracht hat. Und auch für den einen oder anderen Musiker des Philharmonischen Orchesters Würzburg dürfte das Einspielen von Filmmusik eine neue Erfahrung gewesen sein. Kleine Entschädigung dürfte sicher die filmische Inszenierung des Orchesters sein. Denn was vom Originalklang übriggeblieben ist, weiß allein der Toningenieur. Aber es gefällt durchgängig.
Das Mainfranken-Theater hat mit dem 70-Minuten-Film und seiner Präsentation einen Premierenabend abgeliefert, der sicher – vor allem rückblickend – eine historische Dimension in der Digitalisierung des Theaters einnehmen wird. Dass die Zuschauer darüber hinaus einen packenden Opernabend am heimischen Monitor erleben dürfen, wird der Bedeutung des Abends nicht schaden.
Das Video ist noch bis zum Sonntagabend kostenlos abrufbar.
Michael S. Zerban