O-Ton

Kulturmagazin mit Charakter

Foto © Dana Schmidt

Aktuelle Aufführungen

Neue Klänge wie in alten Zeiten

WITTENER TAGE NEUER KAMMERMUSIK
(Diverse Komponisten)

Besuch vom
6. bis 8. Mai 2022
(Einmalige Aufführungen)

 

Saalbau Witten u.a.

Als hätte es die Pandemie nie gegeben: Die 55. Wittener Tage für neue Kammermusik präsentieren sich so reibungslos und abwechslungsreich wie in den Jahrzehnten vor der publikumsscheuen Corona-Zäsur. Die Tore des Schwesternparks, des Saalbaus und anderer Spielstätten öffnen sich wieder und das Publikum strömt mindestens so zahlreich wie in der Vergangenheit herbei. Sogar alle vier Konzerte des Veranstaltungs-Marathons am Eröffnungstag sind ausverkauft oder zumindest sehr gut besucht. Und bei den fünf weiteren Veranstaltungen der folgenden Tage ist es nicht anders.

Als herausragendes Symbol der wiedergewonnenen Freiheit kann die Einbindung des idyllischen, zwischen Bahntrassen und Baustellen angesiedelten Schwesternparks gesehen werden. Zwölf Künstler beleben die Wiesen, Wasserflächen und Nischen des Parks mit Klanginstallationen oder nutzen sie für Events unterschiedlichster Art. Die jeweils etwa zweistündigen „Zeitfenster“, in denen man den Park durchwandern darf, sind recht knapp bemessen, wenn man alle Angebote wahrnehmen will. Was aber nicht sein muss. Schließlich sollen die Events zum Verweilen einladen und keinen Erlebnis-Stress auslösen.

Grenzüberschreitungen von Musik, bildender Kunst und Bewegung bestimmen das Grundkonzept einer solch großflächig angelegten „Landschafts-Installation“, bei der künstliche Klänge mit natürlichem Vogelgezwitscher und Alltagsgeräuschen verschmelzen. Entschleunigung gehört zur Intention vieler Beiträge. Wenn etwa Peter Aiblinger mit einem Labyrinth die Besucher in einen Warte-Modus versetzt oder Lilian Beidler lediglich ihre Stimme und ihren Körper als „installativen Stimmkörper“ verwendet. Wenn Dariya Maminova zu ihrem aus der Ferne klingenden Gesang sechs Instrumentalisten die Margeritenwiese in Zeitlupentempo durchschreiten lässt oder wenn sich in Mauro Hertigs Mum Mum zwei Musikerpaare aus weiter Distanz Klänge zuwerfen.

Der Auftakt des Festivals, das am Freitagnachmittag mit einem Konzert des WDR-Sinfonieorchesters zu Ende geht, ist im Märkischen Museum fünf „Newcomern“ vorbehalten, die in denkbar unterschiedlichen Stilarten Werke für Bläser, Streicher und Klavier präsentieren. Ausgeführt von Nachwuchsmusikern der Akademie des renommierten Ensembles Modern. Das hat am Abend mit zwei aufwändigen Werken seinen großen Auftritt. Und zwar mit der filigran-komplexen, klanglich schillernden Auftragskomposition Hopse des Altmeisters Georges Aperghis und der 40-minütigen, noch größer dimensionierten Tanzkreation Hard Boiled Variations des Heidelberger Komponisten Arnulf Herrmann, die fünf Mitglieder der Cocoondance-Compagnie mit minimalistischen Bewegungsstudien szenisch beleben.

Foto © Claus Lange

Zu den Stammgästen des Festivals zählt das mittlerweile legendäre Arditti-Quartett, das gleich drei neue Streichquartette am Eröffnungsabend vorstellt. Mithatcan Öcal mit einem unterhaltsam originellen Beitrag, Nina Šenk mit einer meditativ in sich gekehrten Studie und der gebürtige Hagener Sven-Ingo Koch mit einem etwas zu lang geratenen Streifzug durch alle Spieltechniken, die sich mit einem Streichquartett bewerkstelligen können.

Auf ein übergeordnetes Motto verzichtet der künstlerische Leiter Harry Vogt grundsätzlich. Entsprechend bunt präsentiert sich das Programm der insgesamt neun Veranstaltungen. Das betrifft auch die Besetzungen, die von Solo-Stücken bis zu Orchesterwerken reichen, von Solisten wie der Geigerin Carolin Widmann und Teodoro Anzellotti auf dem Akkordeon bis zum Ensemble Modern und dem WDR-Sinfonieorchester. Und Vanessa Porter beeindruckt mit einem sensiblen Werk für Schlagzeug solo der im Iran geborenen und an der Folkwang-Universität ausgebildeten Komponistin Elnaz Seyedi.

Auf Provokationen welcher Art auch immer wird mittlerweile ebenso verzichtet wie auf die Verwendung besonders exotischer Besetzungen. Der Trend zu klassischen Formationen wie dem Streichquartett hält an. Ebenso die immer stärkere Präsenz der Frauen. So wird in diesem Jahr die serbische Komponistin Milica Djordjević als „Composer in Residence“ herausgestellt und das weiblich bestückte Trio Catch setzt mit Werken für Klarinette, Violoncello und Klavier der 42-jährigen Deutschen Sarah Nemtsov und der 95-jährigen Französin Betsy Jolas nur zwei feminine Akzente unter vielen anderen. Der Neustart unter relativ normalen Bedingungen nach den Wirrungen der Pandemie ist geglückt. Gute Vorzeichen für das nächste Festival vom 21. bis zum 23. April kommenden Jahres.

Pedro Obiera