O-Ton

Kulturmagazin mit Charakter

Foto © Claus Langer

Aktuelle Aufführungen

Überraschende Klangbilder

PUNKT.LANDUNG
(Bára Gísladóttir, Klaus Ospald, Carola Bauckholt)

Besuch am
23. April 2023
(Einmalige Aufführung)

 

Wittener Tage für neue Kammermusik im Saalbau, Witten
Meiningen

Das Abschlusskonzert eines Festivals ist, wenn es gut läuft, immer etwas Besonderes. Und das soll auch bei den Wittener Tagen für neue Kammermusik so sein. Seit vergangenem Freitag beschäftigt sich das Radio-Festival, das vom Westdeutschen Rundfunk in Kooperation mit der Stadt Witten durchgeführt wird, mit einem völlig unterrepräsentierten Bereich der Musik. Im regulären Konzertbetrieb findet Gegenwartsmusik so gut wie nicht statt. Weil Konzertbesucher diese Musik nicht wollen? Dafür gibt es keine Belege. Vielmehr ist der subjektive Eindruck, dass die wenigen Veranstaltungen aktueller Musik seit der Pandemie besser besucht sind denn je. Die Gegenprobe funktioniert allerdings auch nicht. Im Wittener Saalbau, in dem traditionell das Abschlusskonzert stattfindet, scheinen in diesem Jahr weniger Besucher versammelt zu sein als in den Jahren vor der Pandemie.

In erster Reihe: Lin Liao, Edicson Ruiz und Klaus Ospald – Foto © Claus Langer

Dabei gibt es hier Überraschendes wie Hörenswertes zu entdecken. Den Anfang macht Bára Gísladóttir, 1989 in Reykjavik geboren. Studiert hat sie in Island, Mailand und Kopenhagen. Heute steht ihr Werk Cor für Bläser, Schlagzeug und Kontrabässe aus dem Jahr 2021 auf dem Programm, eine Auftragsarbeit für den Westdeutschen Rundfunk. Dirigentin Lin Liao führt das WDR-Sinfonieorchester durch die insgesamt etwas mehr als einstündige Aufführung. Sie ist in Taiwan geboren, hat dort Komposition und Klavier studiert, ehe sie in Wien ihr Dirigierstudium absolvierte. Souverän und unaufgeregt ihre Handarbeit, die häufig symmetrische Figuren zeichnet. Selbstbewusst entfernt sie sich auch modisch vom Altherrenfrack mit einem Maxi-Sakko, das mit roten Kanten gesäumt ist. Das sieht im Seidenglanz nicht nur außergewöhnlich elegant aus, sondern bringt auch „Glanz in die Hütte“. Auch der Solo-Kontrabassist Edicson Ruiz hält sich nicht an die Konventionen des befrackten Musikers, sondern trägt schlicht ein mauvefarbenes Hemd. Schön, dass sich wenigstens in der Musik der Gegenwart auch im Orchester Veränderungen abzeichnen.

Doch zurück zu Gísladóttir. Gleich sieben Kontrabassisten lässt sie auftreten. Und lässt die Zuhörer erst einmal in eine Weltuntergangsstimmung taumeln, ehe die Kontrabässe für Entspannung oder einen Nachhall im Piano sorgen. Breite Klangflächen, die eher bedrohlich wirken, münden in ein Schlagzeug-Inferno, aus dem die Kontrabässe mit einem friedlichen Piano hervortreten, ehe das 15-minütige Stück in einem allgemeinen Rauschen durch alle Instrumentengruppen allmählich verebbt. Bewusst setzt Liao die Stille am Ende des Werks. Gísladóttir sieht es nicht ganz so dramatisch, wie ihr Stück letztlich klingt. Für sie war es eher die Auseinandersetzung mit der Herkunft des Wortes Cor, das man aus Herz, Körper und Chor ableiten kann. „Cor baut auf einer Collage dieser Aspekte auf, wobei die Absicht darin besteht, Licht (oder Dunkelheit, wenn man so will) auf ihre existenzielle Einheit zu werfen“, sagt sie.

Auch das folgende Stück wäre möglicherweise nicht entstanden, hätte es den Kompositionsauftrag des Westdeutschen Rundfunks nicht gegeben. Was die grundsätzliche Frage aufwirft, ob es eigentlich Aufgabe eines öffentlich-rechtlichen Rundfunks ist, solche Aufträge zu vergeben – oder ob das nicht von anderer Stelle zu erfolgen und der Rundfunk dann darüber zu berichten hätte. Eine Grundsatzfrage, die in den kommenden Jahren sicher noch an Bedeutung gewinnen wird. In Österreich hat die Diskussion bereits begonnen.

Klaus Ospald ist in Münster geboren, studierte Komposition in Detmold und Würzburg. Seit über 30 Jahren beschäftigt er sich mit den Gedichten des Spaniers Miguel Hernández, deren Zeilen er immer wieder in Musik transformiert. So auch bei seinem 20-minütigen Werk Escribi … aus dem vergangenen Jahr, das den fünften Teil seines Guerra-Zyklus darstellt und das für Orchester, Akkordeon und Solo-Kontrabass geschrieben ist. Auch hier eröffnet Edicson Ruiz am Kontrabass, diesmal in Begleitung von Teodoro Anzellotti am Akkordeon. Während Ruiz zwischen den Klangflächen der Streicher zu melodischen Ansätzen findet, grätscht Anzellotti immer wieder, oft unerwartet, dazwischen. Das Stück löst sich in dissonanter Spannung auf, in der die Streicher noch einmal ordentlich gefordert werden. Das Publikum ist begeistert, feiert insbesondere den Komponisten, als er auf die Bühne kommt.

In erster Reihe: Dirk Rothbrust, Carola Brauckholt und Lin Liao – Foto © Claus Langer

Stärker noch steht Carola Bauckholt in diesen Tagen im Vordergrund. Die gebürtige Krefelderin studierte bei Mauricio Kagel an der Kölner Musikhochschule. Inzwischen kann sie auf zahlreiche Stipendien und Auszeichnungen zurückblicken, bekleidet mehrere Ehrenämter und arbeitet zudem seit 2015 als Professorin für Komposition mit Schwerpunkt Musiktheater an der Anton-Bruckner-Privatuniversität in Linz. In Witten stellt sie zum Abschluss des Festivals ihr von der Stadt in Auftrag gegebenes, brandneues Werk Aus dem Geröll vor, das ungewöhnliche Perkussionsinstrumente in den Mittelpunkt stellt. Schlagzeuger Dirk Rothbrust bearbeitet hier Steine mit gehärteten Billardkugeln, lässt Konfektschachteln über eine mit Kolophonium präparierte Tischfläche rutschen, während die Streicher zunächst, statt zum Bogen zu greifen, mit Knackfröschen in das Konzert einsteigen. Die Geräuschkulisse, die zunächst pittoresk startet, steigert sich zu einer Kakofonie, aus der man immer wieder Geräusche, ja, Stimmen zu erkennen glaubt, die eigentlich gar nicht existieren können. „Kunst hatte immer mit Zukunft zu tun und jetzt, wenn diese fundamental infrage steht? Müsste ich nicht etwas anderes tun, wo sozusagen unser Haus brennt, weil der Mensch es geschafft hat, suizidal seine Lebensgrundlage zu zerstören? Mit dieser Schizophrenie schlage ich mich herum“, gibt Bauckholt zu Protokoll. Angesichts des eben Gehörten erschrickt man über so viel Pessimismus. Obsiegt im Konzertsaal die Faszination ob der Fantasie der Komponistin und der Fingerfertigkeit der Musiker, wirkt die zeitversetzte Übertragung im Radio da schon deutlich düsterer.

Nachdenklich also gehen die Wittener Tage für neue Kammermusik in diesem Jahr zu Ende, wenn auch, so der persönliche Eindruck, deutlich gehaltvoller als in früheren Veranstaltungen. Wohin sich die Gegenwartsmusik und vor allem die Programmatik des Festivals im kommenden Jahr entwickelt, wird dann in der erstmaligen Gestaltung von Patrick Hahn vom 2. bis 5. Mai 2024 zu erleben sein. Das heutige Abschlusskonzert kann man noch rund drei Wochen auf der Netzseite des WDR nachhören.

Michael S. Zerban