Kulturmagazin mit Charakter
Aktuelle Aufführungen
COMTE ORY
(Gioachino Rossini)
Besuch am
20. Juli 2024
(Premiere)
Ob es nur den Connaisseur der 39 Opernkompositionen von Gioachino Rossini en detail interessiert, was es mit den Wechselbeziehungen zwischen der 1828 in Paris uraufgeführten Buffa Le Comte Ory um einen so dreisten wie charmanten Verführer einerseits und dem drei Jahre zuvor im Théâtre Italien umjubelten Einakter Il viaggio a Reims auf sich hat, mag offenbleiben. Rossini jedenfalls ist daran gelegen, die griffigsten und spritzigsten Nummern aus dem zur Krönung Karls X. entstandenen Auftragswerk im italienischen Stil in eine französisch inspirierte Oper zu adaptieren, die quasi zeitlos sei. Das gelingt ihm durch Einbettung von rund einem halben Dutzend Arien und orchestralen Nummern in das von Augustin Eugène Scribe und Charles-Gaspard Delestre-Poirson verfasste Libretto ohne Brüche.
Wie schlüssig letztlich Rossinis vorletzte Oper die Meisterschaft des Komponisten in der Phase ihrer Vollendung dokumentiert, ist gerade wieder beim Belcanto Opera Festival Rossini in Wildbad zu erleben. Dort gar zum dritten Mal nach der auf CD erhaltenen Produktion von 2002 und der halbszenischen Realisierung des Stoffes 2016. Garanten sind ein Sängerensemble aus überwiegend gestandenen sowie einigen jüngeren Künstlern. Ferner die vom Belcanto-Magier und Festivaldirektor Antonino Fogliani inspiriert geführten Ensembles der Szymanowski-Philharmonie Krakau, Orchester und Chor, letzterer von Agnieszka Ignaszewska-Magiera einstudiert. Gemeinschaftlich sichern sie ein vergnügliches wie erfüllendes Rossini-Erlebnis.
Scribes auf einer Ballade des 18. Jahrhunderts beruhendes Libretto erzählt eine Geschichte aus der mittelalterlichen Touraine zur Zeit der Kreuzzüge. Dem Zug nach Jerusalem haben sich alle Männer angeschlossen. Ausgenommen Graf Ory, ein Don Juan des Mittelalters, und einige seiner Freunde. Sie stellen den Frauen nach, die Keuschheit bis zur unversehrten Rückkehr ihrer Männer geschworen haben. Ory setzt alles daran, Adele, die Gräfin von Formoutier, zu erobern, die aber in Liebe zum jungen Isolier verfangen ist. Er gibt sich als begnadeter Eremit aus, der den Frauen ihren Gatten zurückbringen und jungen Mädchen einen geeigneten Liebhaber besorgen kann. Nach allerlei Turbulenzen scheitert Ory, als Schwester Colette verkleidet, bei dem Versuch, im Schlafzimmer Adeles Fakten zu schaffen, da Isolier die ersehnte Liebesnacht durchkreuzt. Mit der Rückkehr der Kreuzritter lösen sich Orys erotische Träume in Nichts auf.
Eine winzige, zunächst kaum auffällige Änderung in der Besetzungsliste nimmt den speziellen Regieansatz vorweg, mit dem sich Festivalintendant Jochen Schönleber an die Realisierung des frivolen Leckerbissens für Rossini-Afficionados macht. Dort wird die Rolle des Pagen von Graf Ory mit „Isolière/Isolier“ ausgewiesen. Wie Schönleber in seinen Regienotizen via Programmheft wissen lässt, sei er zusammen mit der Interpretin des Isolier, Diana Haller, der Frage nachgegangen, ob Isolier im Stück eine Frau oder ein Mann sei. Offenkundig sind beide zu der Einsicht gelangt, dass es sich beim Pagen um eine Person handelt, die beide Sphären umfasst. Für die Produktion mündet die Überlegung in ein Vorspiel, in dem Isolière ihren Kopf auf einem Tisch bettet und in einen Traum der Ambiguität verfällt, in dem sie als Jüngling Isolier ihr Ziel erreichen kann, die Comtesse mit seiner Liebe zu erobern.
Für den weiteren Fortgang von Handlung und Inszenierung hat das Geschlechterspiel während der in vier Teile gefassten Introduktion freilich keine größere Bedeutung. Die entwickelt sich dann aber eindeutig in der Verlagerung des Stoffes in die frühen 1970-er Jahre mit ihrer Hippie- und Flower-Power-Kultur. Schönlebers Inszenierung folgt dem Wildbader Standard: Bescheidene Ausstattung, fantasievolle Kostüme, Akzente durch eine ausgeklügelte Personenregie.
Foto © Patrick Pfeiffer
In Olesja Maurers Kostümierungen, die auch dem Film La cage aux folles von Édouard Molinaro aus dem Jahr 1978 entstammen könnten, dominieren Hippie-Elemente wie bunte Röcke, Rasta-Frisuren und Badelatschen. Die Männer präsentieren ihre Muskeln und vergnügen sich mit simplen Stühlen auf einer „Reise nach Jerusalem“. Graf Ory entsteigt in der Maske des frommen Eremiten in weißem, sackähnlichem Ornat mit heller Perücke und dunklen Sandalen einem Beduinenzelt. Im zweiten Aufzug, der in der Bibliothek des Schlosses spielt, treibt Ory das Verkleidungsspiel auf die Spitze, als er sich als Colette tarnt. Die Tollheit wird noch durch die als Pilgerinnen verkleideten Kumpane Orys verstärkt, die den Dorfmädchen nachstellen.
Adele, anfänglich in Weiß gewandet, jetzt in schwarze Trauergarderobe gehüllt, um Ory gegenüber Distanz zu schaffen, hat alle Hände zu tun, die erotischen Anbahnungen in ihrer Entourage zu verhindern. Sie selbst scheint aber nicht ganz abgeneigt, wie ein auffälliger langer Schlitz im schwarzen Kleid verrät.
Szenischer Höhepunkt ist im zweiten Akt das Terzett A la faveur de cette nuit obscure, das die Comtesse, Ory und Isolier im Schlafzimmer der Gräfin vereint, wobei mit dem Pagen exakt die Person in den Kissen zwischen Ory und Adele liegt, die den erotischen Feldzug des Grafen durchkreuzt. Schönleber überführt das musikalisch großartige Terzett in eine Schattenwelt, in der die Protagonisten hinter einem lichtdurchlässigen Vorhang wie im Scherenschnitt agieren. Wechselndes farbiges Licht, von Marcel Hahn kreiert, gibt der „obskuren“ Nacht jenen Hauch von Verruchtheit, der auch die Musik durchzieht. Viel schöner lässt sich das zehn Minuten umfassende Bravourstück für die Sänger kaum inszenieren, das von Bläsern und Streichern mit Dämpfern mit subtilen Farben untermalt wird. Hier wird noch einmal der Bogen zu Wolfgang Amadeus Mozart geschlagen, werden die Klangräume eines Hector Berlioz vorweggenommen. Bravo, Rossini!
In den leichtfüßigen Stil, die Virtuosität, die Maschinentakt- und Accelerando-Kunststücke der furiosen Partitur passen sich die Sängerdarsteller blendend ein, sängerisch wie spielerisch. In der Titelrolle begeistert Patrick Kabongo, der mit Wildbad-Auftritten seit 2017 längst ein Stammpublikum besitzt. In seiner Auftrittsarie Que les destins prospères, mit der er Kumpanen wie Dorfmädchen seine vermeintlichen Fähigkeiten anpreist, lässt er sein Rossini-Timbre leuchten. Als Comtesse beweist Sofia Mchedlishvili mit perlenden Linien und blitzblanker Höhe Belcanto-Format. Ein Clou ist der Wettstreit um die schönsten Koloraturen, den sie sich mit Diana Haller als Isolier liefert. Für einen Pagen ist deren Mezzo eigentlich zu robust. Doch passt ihre Burschikosität sehr gut zu ihrer Aufgabe, Ory in die Schranken zu weisen.
Wildbads Ory 2024 bietet mit dem Bass Nathanaël Tavernier als Erzieher des Grafen sowie dem Bariton Fabio Capitanucci zwei Buffo-Begabungen auf. Es ist schlicht ein Vergnügen, Tavernier zu erleben, wie er in der Arie Veiller sans cesse schildert, unablässig auf der Hut zu sein und um das Leben seiner Hoheit und sein eigenes fürchten zu müssen. Capitanucci macht als Orys Gefährte Raimbaud aus seiner Arie Dans ce lieu solitaire nach der Plünderung des Weinkellers ein regelrechtes Kabinettstück, wenn er die einzelnen geraubten Weinsorten rühmt. Buvons, buvons, das anschließende Ensemble der Solisten mit dem Chor, hat hier seine prächtige alkoholische wie musikalische Grundierung gefunden.
In weiteren Rollen machen Camilla Carol Farias als Dame Ragonde und Yo Otahara als Alice, beide Stipendiatinnen der Wildbader Akademie BelCanto, gute Figur. Auf der Terrasse der Trinkhalle diskutiert ein Teil des Publikums, das allen Mitwirkenden inklusive Regieteam, lange und herzhaft Beifall gespendet hat, Feinheiten der Aufführung. Rossinis Le comte Ory und ein warmer Sommerabend – das passt einfach.
Ralf Siepmann