O-Ton

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Aktuelle Aufführungen

Vom Irrtum einer Vermeidung

IL TROVATORE
(Giuseppe Verdi)

Besuch am
25. September 2021
(Premiere am 19. September 2021)

 

Hessisches Staatstheater Wiesbaden

Etliche Opern des 19. Jahrhunderts müssen es sich gefallen lassen, heute unter dem kulturzerstörerischen Druck von political correctness und einer von Ausgrenzung befeuerten Identitätspolitik neu betrachtet und begutachtet zu werden. Exemplarisch seien Guiseppe Verdis Othello und George Bizets Carmen genannt. Zu diesen Werken gehört ohne Zweifel auch Verdis Il trovatore, uraufgeführt 1853 in Rom. Das vier Akte umfassende Melodram spielt zu Beginn des 15. Jahrhunderts in Spanien. Pittoreske Elemente liefern für jede Aufführung der Palast Aliaferia bei Saragossa, Sitz des Grafen Luna, Oberbefehlshaber über die Soldaten des Königs, die Festung Castellor, die Söldnerheere und ein Zigeunerlager. So benannt in dem von Salvatore Cammarano geschaffenen und von Leone Emmanuele Bardare nach dessen Tod vollendeten Libretto.

Das Narrativ von Gewalt und Rache hält die Zigeunerin Azucena im Gang – eine Figur, die Verdi unter dem Eindruck der Fides aus Giacomo Meyerbeers Le Prophète zu einer ersten tragenden Rolle für Mezzosoprane motiviert. Nun ist Azucena nicht nur eine hochdramatische Erscheinung, der der Komponist glutvolle Gesangsnummern auf den Leib geschrieben hat. Im Plot ist sie eine Dämonin. Wenn sie ihre Erzählung vom Morden und Verrecken in den Flammen eines Scheiterhaufens anstimmt, hängen die Zigeuner an ihren Lippen.

Kann dieses Milieu für Inszenierungen in den zwanziger Jahren unseres Jahrhunderts, die sich dem ethisch überhöhten Zeitgeist verpflichtet fühlen, noch zeitgemäß sein? Natürlich nicht. Und so kommt es fast schon wie erwartet. Die Wiesbadener Inszenierung des Österreichers Philipp M. Krenn ist darauf angelegt, alle Anklänge an Leben und Eigenart alle cingarese zu eliminieren und einen ethnomoralisch geläuterten Trovatore zu liefern.

Um diese neue Fallhöhe zu erreichen, hat Krenn sich als schwarz-weiße Metawelt eine Anleihe beim mexikanischen Todeskult einfallen lassen, der sich aus den Mythen der mexikanischen Urvölker und der postkolumbianischen Moderne speist. Einmal im Jahr begehen die traditionell empfindenden Mexikaner den dia de los muertos, an dem sie ausgelassen feiernd der Seelen der Verstorbenen gedenken.  Krenns Zigeuner treten nun als Chor der verblichenen Skelette auf und intonieren gleichwohl fröhlich ihre eingängigen Melodien. Formidable Tänzer des Hessischen Staatstheaters umspielen die Protagonisten, die in durchsichtige Plastikfolien gehüllt sind. Folien, in denen ein Mensch ersticken oder sich verbergen kann. Wie die Hofdame Leonora, die vom Grafen Luna und dem Troubadour Manrico umworben wird. Voller mortaler Symbolik auch der Beginn. Der Betrachter wird mit reglos dahin gestreckten Körpern am Boden oder gar in der Badewanne konfrontiert, die von weiß gewandeten Frauen wie aus dem Todesschlaf in das Leben zurückgeholt werden.

Wie fragwürdig Krenns Regiekonzept der Vermeidung des historisch Verbürgten, aber heute Unerwünschten ist, entlarvt sich in der Wiesbadener Produktion ohne Umschweife selbst. Selbstverständlich erscheint in den deutschsprachigen Übertiteln die gesamte Libretto-Begrifflichkeit alla cingarese. Wir Zigeuner wissen niemals, wo der Weg morgen hinführt. Wir kennen keine Heimat. Der Himmel ist unser Dach. Die Erde das Lager, vertraut Azucena Graf Luna im dritten Akt an. Was ist das Schönste auf der Welt für die Zigeuner? Nur die Zigeunerin!, schmettert der Chor der Skelette alias Zigeuner im zweiten. Eine aufschlussreiche Sammlung von Klischees, wie sie sich der Kulturforscher, der Ergründer der Kultur der Roma, kaum gehaltvoller wünschen könnte.

Wird nach der Transformation des gesellschaftlichen Seins, der historischen Milieus die Transformation der Operntexte der nächste Schritt? Inklusive Installation von „Genderzeichen“ in Libretti, die vor Jahrhunderten entstanden sind? Verlieren dann Textbücher ihre historische Relevanz, die darin besteht, die geistig-literarische Welt einer Epoche zu dokumentieren? Diese und verwandte Fragen werden den Opernbetrieb der nächsten Jahre gewollt oder ungewollt begleiten. Bloße Vermeidung ist auf jeden Fall kein Konzept, kein konstruktives anders.

Der Wiesbadener Bühnenbildner Rolf Glittenberg und die für die Kostüme verantwortliche Marianne Glittenberg haben für das befremdliche Spiel der Aussiedlung einer europäischen Kultur eine Ausstattung organisiert, die so unspezifisch, so austauschbar ist, dass sie wiederum als Ganzes funktioniert. Die originären Schauplätze verschmelzen zu einem Einheitsraum, dessen Mauern bei einer nach oben offenen Decke wiederum das Schwarz-Weiß-Prinzip aufgreifen. Diesem folgen weitgehend auch die Monturen der Protagonisten. Azucena agiert schwarz wie die Nacht mit einer Perücke, die bis zum Boden zu reichen scheint. Leonora hebt sich in ihrem weißen langen Gewand von dieser tiefschwarzen Welt des Verbrechens ab wie ein Engel, der für einen letzten Rettungsversuch vom Himmel herabgestiegen ist. So inszeniert auch die zwischen Herz ergreifenden Piani und furiosen Attacken changierende Cristiana Oliveira Leonoras Liebesbeschwörung D’amor sull‘ ali rosee im letzten Akt, gewinnt so die Kontur eines Erlebnisses.

Nicht unerwähnt sollen einige Einfälle bleiben, die Krenn, schon Regisseur der Britten-Oper Peter Grimes vor einigen Jahren in Wiesbaden, vor allem im vierten Akt gelungen sind. In diesem melodramatischen Kammerspiel um Liebe und Erlösung, Hass und Rache, Tod und Vergeltung. So zeichnet er Graf Luna mit erkennbarer Spielfreude typengerecht als Macho. In dem Augenblick, in dem er glauben darf, dass Leonora sich ihm hingeben wird, um ihren Geliebten Manrico zu retten, zieht er ein bezogenes Bett aus dem Bühnenhintergrund nach vorn.

Typisch Mann: Das Gehirn wird durch Testosteronausschüttung komplett ausgeschaltet. Unter demselben Bettzeug suchen später Azucena und Manrico Schutz. Ein einprägsames Bild für eine Verbindung, die erst spät im Leben des Rebellenführers und Troubadours real wird, aber keine Zukunft hat.

Das Hessische Staatsorchester Wiesbaden mit Alexander Joel am Pult beweist eine hohe Affinität zu Verdis Partitur, erfüllt von der melodischen Innovationskraft ihres Schöpfers, seiner Gabe zur Tonmalerei und zu situationsspezifischer Explosivität. Berührend die zurückhaltende Orchesterbegleitung in den lyrischen Sequenzen. Superb die Triangel zum populären Vedi! Le fosche notturne spoglie des Chores aus der Seitenloge. Vorzüglich alle Choristen unter Leitung von Albert Horne. Die Sopranistin Oliveira als Leonora ist zweifellos die herausragende Interpretin des Sängerensembles. Bereits mit ihrer ersten Solo-Arie Tacea la notte placida gewinnt sie das Publikum, das – wie später noch – mit Szenenapplaus reagiert. Daneben nimmt Aluda Todua als Graf von Luna mit kerniger Baritonstimme und dominantem Auftreten für sich ein. Ihm nimmt man das wütende Toben und die gekränkte Eitelkeit jederzeit ab.

Als problematisch bleibt der Auftritt Aaron Cawleys als Manrico in Erinnerung. Ist die Partie, gekrönt durch die grandiose Stretta Di quella pira, eine der Glanzrollen von Tenören an der Schwelle zum reinen Belcanto, ist dieser Manrico in einem ständigen Kampf mit den Anforderungen der Partie zu erleben. Unharmonische Registerwechsel, Unruhe in der Höhe und ein Ringen um ein Kontinuum am unteren Spektrum der Stimme. Auch das bezwingende Duett mit Leonora im dritten Akt L’onda  de´suoni mistici rettet ihn nicht.

In der Rolle der Azucena glänzt die Mezzosopranistin Jordanka Milkova, die sich die Auftritte mit der bekannten Vesselina Kasarova teilt. Keineswegs entsteht der Eindruck, man habe hier einen Star „verpasst“. Milkova gibt die zwischen Hass- und Muttergefühlen hin- und her gerissene Außenseiterin mit ekstatischer Spielfreude und vokaler Hingabe. Ihr Mezzo schafft die lodernde Höhe wie die brandende Tiefe in Technik und Ausdruck virtuos. Das stride la vampa! im zweiten Akt einfach phänomenal! Allenfalls wäre ihr für die Vervollkommnung der Azucena eine noch schwärzere Grundierung in Richtung Alt zu wünschen. Young Doo Park liefert als Ferrando, Graf Lunas Gefolgsmann, eine ordentliche Partie ab, überzieht diese aber leider durch ein unnötiges stimmliches Vibrato. In weiteren Rollen runden die Mezzosopranistin Stella An als Inez und der Tenor Erik Biegel als Ruiz den sängerischen Gesamteindruck ab.

Das Publikum im unter Corona-Vorzeichen besetzten ausverkauften Haus gönnt allen Beteiligten einen herzlichen und lange nicht enden wollenden Applaus. Zu spüren ist offene Erleichterung. Die Ära der Verbannung in das Digitale, der auch die ursprünglich geplante Full-house-Premiere der Neuinszenierung des Trovatore 2020 zum Opfer gefallen ist, geht erst einmal zu Ende. Wenn sich Oper dann noch so mitreißend erfüllt, mag die Opernspielzeit 2021/22 ihren Lauf nehmen. Die Oper, liebe Ignoranten und Verweigerer, soll tot sein? Weit gefehlt. Sie lebt.

Ralf Siepmann