O-Ton

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Himmel und Hölle

IL TRITTICO
(Giacomo Puccini)

Besuch am
21. Juni 2021
(Premiere)

 

Hessisches Staatstheater Wiesbaden

Jede ambitionierte Inszenierung des Trittico unterliegt der dramaturgischen Versuchung, zwischen den drei Einaktern eine inhaltlich plausible Verbindung, einen roten Faden, zu finden. Uwe Eric Laufenberg nimmt bei seiner Annäherung an Puccinis Trilogie im Staatstheater Wiesbaden Dante Aligheri beim Wort. Jahrelang spürt der „Komponist der kleinen Dinge“, wie Puccini sich selbst nennt, auf der Suche nach geeigneten Librettisten den Figuren und dem Geist Dantes Göttlicher Komödie nach, bis er sie schlussendlich findet. In Guiseppe Adami, der das Textbuch zu dem Melodram Il Tabarro schreibt, in Gioacchino Forzano, der die Seria Suor Angelica und die Buffa Gianni Schicchi zur Sprache bringt.

Für den Hausherrn und Regisseur Laufenberg stehen drei Schlüsselbegriffe für Dantes und damit Puccinis Sichtweise auf die menschliche Existenz: Inferno, Purgatorio, Paradiso. Unterlegt mit Zitaten aus dem Epos der italienischen Renaissance, werden sie vor Beginn der Aufführung auf einen Bühnenvorhang projiziert. Will wohl sagen: Diese Inszenierung ist Theater der Menschlichkeit in all ihren Facetten, von der größten Schurkerei bis zum überbordenden Humor. Sie geht zumindest in den ersten beiden Teilen unter die Haut, bevor sie am Ende mit Gianni Schicchi dem Publikum Befreiung und Erlösung erlaubt. Uns Heutigen ein Gleichnis für das Schicksal der Menschheit in jüngster Zeit, in der viele durch die Hölle der Pandemie gehen und die Besonnenen ihr wiederum entrinnen.

Als Inferno, Hölle, erleben die Schiffer auf ihrem Lastkahn am Pariser Seineufer in Il Tabarro den Lebenshunger der von der Ehe enttäuschten Frau und ihres Liebhabers wie die Brutalität des hintergangenen Mannes in der prototypischen Rolle des Eigners und autoritären Patrons. Durch ein Purgatorio, Fegefeuer, geht in Suor Angelica die junge, von ihrer Familie geächtete Nonne, das Drama einer jungen Frau, ehe sie verklärt Versöhnung findet. Als Paradiso, heiteres Vergnügen, zeichnet Gianni Schicchi die Ranküne einer toskanischen Gesellschaft von Heuchlern und Erbschleichern.

Der amerikanische Kritiker W.J. Henderson vergleicht nach der Uraufführung 1918 in New York im Ringen um den „roten Faden“ das Werk mit den Sätzen einer Sinfonie: „Der erste ein leidenschaftliches stürmisches allegro, der zweite ein bleiches, schwermütiges andante, der dritte ein Feuerwerk von Finale, das einen nach den Gesängen von Sünde und Kummer wieder fröhlich macht.“ Laufenberg zieht seinen roten Faden weniger konzertant, eher in einer Metaebene. Sechs Wochen nach der Wiesbadener Online-Premiere von Il Trittico liegt der eigentliche Wert der nachgeholten klassischen Erstaufführung vor rund 200 Corona-affin platzierten Besuchern in einem unausgesprochenen, aber deutlichen Kommentar zum pandemischen Überbau. Seht Ihr Leute, würde Dante versichern, die Ihr durch die Hölle und die Verdammnis gegangen seid, dass Hoffnung ist und am Ende gar die Lust am Leben, Paradiso.

Und das Theater, das Musiktheater im Besonderen, ist Teil dieses Paradiso, so man, genauer: die Kulturpolitik, es machen lässt, was es am besten kann: den Menschen eine Bühne der Menschlichkeit zu sein.

Ganz im Sinne dieser „Wiesbadener Botschaft“ hält Laufenberg an der Trias sowie der von Puccini und seinen Librettisten vorgegebenen Reihenfolge der Einzelstücke fest. Anders als etwa 2018 die Oper Bonn, wo Regisseur Mark Daniel Hirsch seine Inszenierung auf Gianni Schicchi und Il Tabarro – in dieser Reihenfolge – beschränkt und Suor Angelica ausspart. Und ganz im Sinne der Überzeitlichkeit von Stoff und Regie ordnet Bühnenbildner Gisbert Jäkel die drei Schauplätze Schleppkahn, Kloster, Herrenhaus der Epoche zu Beginn des 20. Jahrhunderts zu. Ein großes Kompliment gehört den Kostümen Jessica Karges. Ihr gelingt es, für die Protagonisten in den so unterschiedlichen Milieus und Handlungswelten stimmige Kreationen zu finden und zu realisieren.

Die weißen, insofern ungewöhnlichen Trachten der Nonnen sind ein leuchtendes Attribut der Ausstattung. Sie tragen zusammen mit der einfühlsamen Lichtregie von Andreas Frank wesentlich dazu bei, Suor Angelica, das vermeintlich sperrige Mittelstück des Trittico, zum eindrucksvollsten Drama der Wiesbadener Produktion zu avancieren. Zu erleben ist ein Kammerspiel hoher Intensität und höchster Wirkung, das zu den wenigen Opern gehört, die ausschließlich für Frauenstimmen geschrieben sind.

Bei vielen Aufführungen entwickelt das Publikum gerade diesem Einakter gegenüber wegen seiner strengen klösterlichen, teils unmenschlichen Umgangsformen eine gewisse Distanz. Mit ursächlich hierbei ist die irritierende Finalszene, die Laufenberg überdies auch noch überhöht. Während im Libretto die Heilige Jungfrau Maria als Vision der Angelica zusammen mit dem Knaben erscheint, der ihr von der Familie entrissen wurde, ist es in Wiesbaden der vom Kreuz herabgestiegene leibhaftige Darsteller des Jesus. Mit dem Jungen an der Hand erreicht er das Wunder der spirituellen Versöhnung Angelicas mit ihrem Schicksal. Dass die Nonne daraufhin nun ausgerechnet in einem Metaphysisches andeutenden Begräbnisritual im Bühnenboden verschwindet, kann den Kitschcharakter dieser Passage nur noch erhöhen.

Von diesem faux pax abgesehen, entwickelt Laufenberg in allen drei Einaktern eine psychologisch durchdachte, auf den jeweiligen Typus abgestimmte Personenregie. Dieses Engagement für wirkliche Menschen mit ihren großen Träumen und – analog Puccini – „kleinen Dingen“ kann auch mal bis zur Schmerzgrenze gehen. In Il Tabarro wird die Brutalität des gekränkten Mannes nach dem Menschenbild Dantes mit der Adaption des Tötungsaktes des Polizisten in der Causa George Floyd manifest. Wie in Minneapolis vor gut einem Jahr setzt der Schiffseigner Michele sein linkes Knie vis à vis zum Publikum auf den Hals seines Widersachers Luigi, bis der sein Leben aushaucht. Eine starke Symbolik, die im Parkett für absolute Stille sorgt. Ähnlich grausam ist die anschließende Szene angelegt, in der Michele Giorgetta, seine Frau, auf die Leiche Luigis presst, nachdem er den Mantel von dessen Körper gerissen hat.

Wiesbadens Trittico-Ensemble agiert ungeachtet der langen Bühnenpause in prächtiger Verfassung. Olesya Golovneva ist als Giorgetta, Schwester Angelica und Lauretta zu erleben. Sie ist schon deswegen die Protagonistin dieser Aufführung, da sie alle drei Titelpartien übernimmt. Das ist keineswegs die Regel. In der Referenzaufnahme Lorin Maaazels zum Beispiel singt Renata Scotto Giorgetta und Angelica, nicht aber den Part von Lauretta, der von Ileana Cotrubas gestaltet wird. Die größte Ausdruckskraft der Sopranistin geht von der Darstellung der Angelica aus. Wie sie das Leiden und die temporäre, am Ende unbestätigte Freude der Nonne spielt und singt, ist schlicht ergreifend.

Vokal überzeugt Wiesbadens Vitellia in La clemenca di Tito und Tatjana in Eugen Onegin vor allem mit der Angelica-Arie Sensa Mamma, o bimbo, tu sei morto und im diametral entgegengesetzten Genre der Buffa mit der bezaubernden Lauretta-Arietta O mio babbino caro. Auch im schmelzenden Duettino mit dem Tenor Aaron Cawley als Luigi, der seiner vom Unglück gezeichneten Rolle Stil und Profil vermittelt. Daniel Luis de Vicente präsentiert mit markiger Baritonstimme das ganze Spektrum seiner Bühnenkunst. Einmal als gespaltener Charakter in der Gestaltung des Michele, zum anderen als Brutalo in der Titelpartie des Schicchi. Der Altistin Romina Boscolo ist als Frugola, Fürstin und Zita eine starke Bühnenpräsenz zu eigen. Ioan Hotea gewinnt das Publikum als Rinuccio und als Liederverkäufer mit silbriger Tenorstimme und großer Spielfreude.

In den zahlreichen weiteren Partien zeigen sich insbesondere die Sopranistin Barbara Stallmeister als Schwester Dolcina und als Nella, der Tenor Erik Biegel als Tinca wie Gherardo sowie Wolf Matthias Friedrich als Talpa in Bestform. Großen Anteil an der insgesamt geglückten Produktion haben der Chor und die Chorsolistinnen des Staatstheaters, nicht zuletzt wenn sie aus dem Off zu vernehmen sind. Ferner der Wiesbadener Knabenchor unter der Leitung Albert Hornes.

Das Hessische Staatsorchester Wiesbaden unter dem Dirigat Alexander Joels meistert die Partitur voller impressionistischer Feinheiten mit einer Corona-bedingt leicht reduzierten und entzerrt platzierten Besetzung. Die beiden Hörner sind in der Loge links, die beiden Trompeten in der Loge rechts von der Bühne untergebracht. Insgesamt entsteht ein musikalisches Tableau, das die Genrestimmung der Einzelstücke in ein übergeordnetes musikalisches Großgemälde überführt. Völlig verdient und angebracht: anhaltender lebhafter wie erlöst erscheinender Beifall für alle Mitwirkenden.

Kleine Anekdote am Rande: In Suor Angelica gehört, als Nüsse, Ziegenkäse, Brot, Salz und Öl zum Abendmahl hereingetragen werden, ein vitaler Esel zum Bühnenpersonal. Bezeichnenderweise ist von einer mula, einem Maultier, auch die Rede, wenn in Gianni Schicchi das Inventar der Erbschaft verlesen wird. Unter dem ansteigenden Gelächter aus dem Parkett zeigt der Esel allerdings minutenlang keine Anzeichen, freiwillig seinen Platz zu räumen. Das gelingt erst nach allerlei unterschiedlichen Bemühungen der Nonnen. Ob nun inszeniert oder nicht – wenn schon ein Esel seinen angestammten Platz im Theater behaupten will, kann es mit der Theaterkunst nicht allzu schlimm sein. Das lässt für die Zukunft hoffen.

Ralf Siepmann