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Eleganz des Morbiden

PIQUE DAME
(Peter Tschaikowski)

Besuch am
29. Januar 2022
(Premiere)

 

Hessisches Staatstheater Wiesbaden

Was ist unser Leben? Ein Spiel. In Peter Tschaikowskis vorletzter Oper auf ein Libretto seines Bruders Modest nach Alexander Puschkins Erzählung fordert der Außenseiter Hermann das Schicksal im Glücksspiel heraus. Mit Gewinn bringenden Karten, die er der alten Gräfin, wegen ihrer früheren Spielleidenschaft als „Pique Dame“ bekannt, unter Einsatz aller Mittel zu entlocken sucht, will er zu Reichtum gelangen und den sozialen Aufstieg in die zaristische Aristokratie schaffen. Und zugleich die Voraussetzungen für ein standesgemäßes Leben mit Lisa, Enkelin und Erbin der Gräfin. Im düster-dämonischen Ende verliert Hermann indes alles. Das Spiel, das Leben, die Liebe.

Nur wenige hundert Schritte liegt das Staatstheater Wiesbaden von der Spielbank in der hessischen Landeshauptstadt entfernt. So muss es mehr als reizvoll erscheinen, den 1890 am Kaiserlichen Theater in St. Petersburg uraufgeführten Dreiakter auf die Bühne des Hauses zu bringen. Sich, wenn man so will, dem Spiel der Kunst in der kritischen Öffentlichkeit zu stellen.

Natürlich ist dieser Gedanke nichts mehr als eine Koketterie. Im wahren Theaterleben gelingt dem Hausherrn und Regisseur Uwe Eric Laufenberg mit seiner Sicht auf das Seelendrama um Leidenschaft und Wahn im Spiel des Lebens ein kraftvolles, an Schauwerten übervolles Panorama menschlicher Tugenden wie Abgründe. Darüber hinaus überzeugt es durch eine mehr als passable musikalische Performance in russischer Sprache. Diese Inszenierung könnte gerade in der Stadt der historischen Affinität zur russischen Oberschicht vor 1900 dazu beitragen, die nicht begründbare Bevorzugung von Tschaikowskis Eugen Onegin außerhalb der slawisch orientierten Opernwelt zu überwinden.

Nein, Pique Dame ist nicht das Alterswerk eines Musikers, der sich so sein eigenes Außenseiterdasein in Kunst und Gesellschaft von der Seele schreibt. Und ja, Pique Dame ist als Musikdrama mit seiner plastischen Erzählstruktur und der voll ausgebildeten romantischen Orchesterlinie wahrscheinlich sein größtes Werk. Die Wiesbadener Aufführungstermine laden mithin Interessierte ein, sich selbst davon zu überzeugen.

Zeit seines Lebens fühlt sich Tschaikowski – insoweit Puschkin verwandt – dem Milieu der frankophilen russischen Aristokratie um 1800 sowie den westeuropäischen musikalischen Stilen verbunden. Exemplarisch wird das in der Figur des Triquet in Eugen Onegin von 1879, der im zweiten Akt der Lyrischen Szenen eines der damals beliebten Couplets zum Besten gibt. Auch Laufenberg folgt in seiner Inszenierung der schwärmerischen Passion des im Jahr der Uraufführung von Euphorie und Todesahnung erfüllten Komponisten mit erkennbarer Sympathie gegenüber der Eleganz französischer Lebensart, stoße sie auch an die Grenzen des Morbiden. Freilich geschieht das nicht uneingeschränkt.

Für eine Aristokratie im Zustand wachsender Dekadenz wählt Laufenberg das Stilmittel der wiederkehrenden, leider allzu plakativen Nacktheit. Diese Ansicht wird dem Publikum gleich zu Beginn aufgedrängt. In einer pantomimischen Skizze nimmt eine Schönheit in feinster Robe einige Herren am Spieltisch aus, die sich als die jugendliche Variante der Gräfin entpuppt. Der Sprung von der dann ausgestellten Erotikpose hin zu derselben Person im Rollstuhl einige Szenen später ist gewaltig.

Nacktheit kann ein Mittel künstlerischer Offenbarung wie Verfremdung sein, wenn sie bestimme ästhetische Ansprüche erfüllt. Das ist aber hier nicht der Fall. An die Rampe tritt eine leicht ordinäre Frau im Pelzmantel, die sich erst eine Zigarette ansteckt und beim Verlassen der Bühne einen Blick unter ihren Mantel erlaubt. Noch deutlicher wird dieser Effekt im tänzerischen Intermezzo während des Maskenballs im dritten Bild ausgebreitet. Drei Tänzerinnen in Pelzmänteln zeigen nicht nur die Pracht ihres Gewandes, sondern erlauben auch Einblicke darunter. Eine Anspielung auf den Luxus heute, mit dem sich die Oligarchen im Putin-Russland umgeben?

Doch noch ist der Effekt des Nackten nicht ganz ausgekostet. Selbst die Zarin Katarina, die im Finale des Schäferspiels als Vision oder Projektion der Festgesellschaft erscheint, kommt nicht ohne einen Hauch von Entblößung von der Bühne.

Nun ist dieses Schäferspiel im Maskenball, das Lisas Konstellation zwischen ihrem Verlobten, dem reichen Fürsten Jeletzki, und ihrem Geliebten, dem mittellosen Offizier Hermann, spiegelt, für das Verständnis der Handlung nicht erheblich. Es hat musikalisch Charme, der aber von der Tanzgruppe in der Choreografie von Myriam Lifka nie und nimmer adäquat erreicht wird. So bietet sich eigentlich der Verzicht auf das Intermezzo an. Bei einer Aufführungsdauer von fast dreieinhalb Stunden durchaus. Und in Pandemiezeiten mit dem verlangten Mund-Nasen-Schutz über die volle Spieldauer eh.

Laufenbergs bewährtes Ausstattungsteam fokussiert bei nicht übertriebenem Aufwand auf die Schauplätze, an denen auch schon bei Puschkin das Geschehen seinen Lauf nimmt. Für Anwandlungen wie 2017 an der Stuttgarter Oper, als Jossi Wieler in einem sozialen Brennpunkt von heute spielen lässt, gibt es nicht den geringsten Raum. Wie nah der Regisseur das Musikdrama bei Puschkins 1834 erschienener Novelle sieht, verdeutlichen Zitate aus der Erzählung in russischer und deutscher Sprache. Sie werden jeweils vor den einzelnen Bildern auf den Bühnenvorhang projiziert.

In den von Marianne Glittenberg gestalteten, prächtigen Kostümen, gern in Ballkleidern die Damen, in Frack oder Uniform die Herren am Spieltisch oder beim Plaisir im Palais, macht die Adelsgesellschaft eine vorzügliche Figur. Der von Rolf Glittenberg geschaffene universale Raum, überwölbt von einer mächtigen, lichtdurchlässigen Deckenrosette, könnte dem Inneren des benachbarten Casinos nachempfunden sein. Mit wenigen Handgriffen lassen sich die einzelnen Schauplätze der Handlung einrichten. Der Sommergarten von St. Petersburg, das Palais, die schlichte Stube Hermans in der Kaserne, das Schlafgemach der Gräfin, die Newabrücke. Spektakulär ist die lang gestreckte, erhöhte Tafel mit seitlich gesteckter Beleuchtung, zugleich Ort des Schäferspiels im dritten Bild.

In diesem durchaus konventionellen Rahmen schafft Laufenberg eine ganze Reihe von opulenten, bisweilen berührenden Szenen. So im zweiten Bild mit den rund um ein Klavier gruppierten Damen des Chores. In einer besonders intimen Atmosphäre intoniert Silvia Hauer in der Rolle der Polina mit dunkel gefärbtem Mezzo Romanze und russisches Lied, das später der Chor übernimmt. Schlicht überwältigend ist im vierten Bild die Szene mit Romina Boscolo als Gräfin, die von einem Fotoporträt überhöht wird. Es zeigt sie auf dem Gipfel ihres Ruhms als „Moskauer Venus“ in Paris. Wie die italienische Altistin in fließendem Französisch ihren Ekel vor der Welt Ah que se monde m’ennuie! erklärt und ihre Erinnerungen an eine Zeit – Quelle époque! – beschwört, in der sie „selbst vor der Marquise de Pompadour gesungen“ habe, ist ganz großes Opernkino.

Nicht viel weniger geht Lisas Abschied von dem im Spielwahn verfangenen Hermann vor einem tiefschwarzen Hintergrund mit rieselnden Schneeflocken unter die Haut. Er ist verloren, verloren und mit ihm auch ich. Nach diesen letzten Worten hüllt sie sich am Boden in ein weißes Tuch, in dem sie sich um ihre Achse dreht, dreht und dreht. Bis zum Ufer der Newa. Und in den Tod.

Last not least kostet das Theater-Vollblut Laufenberg im Finale in der Spielbank die Dramatik der Vorlage aus. Der Chor der Gäste gibt dabei mit dem ausgelassenen Lied Wir wollen trinken und Spaß haben! die Richtung vor. Hermann steigert sich im Pharo, im damals dominierenden Glücksspiel, in einen existenziellen Rausch. Um den Einsatz erhöhen zu können, klaubt er Banknoten sogar aus seinen Schuhen. Die Gnadenlosigkeit einer Gesellschaft, die sich Verluste im Casino und im Miteinander der Menschen problemlos leisten kann, macht der Regisseur quasi als Schlusspointe bewusst. Während der waidwunde Hermann aus dem Saal geschafft wird, setzt sein Gegenspieler, Fürst Jeletzki, das Spiel mit seinen Kumpanen ungerührt fort.

Vom Interpreten des Hermann werden heroische Strahlkraft, Variationsfähigkeit im Spiel und ein Gefühl für die lyrischen Linien der Partitur verlangt. Aaron Cawley, schon als Manrico im Wiesbadener Il Trovatore eindrucksvoll, bringt dieses Kunststück mit seiner in der Höhe durchschlagenden Tenorstimme tadellos fertig. Der irische Bariton Benjamin Russell gibt dem Fürsten Jeletzki mit anheimelndem Timbre und wohlig-kehliger Mittellage aristokratisches Format. Kurios nur, dass ausgerechnet der Sänger mit der intensivsten vokalen Emotionalität rollengeschuldet die stärkste Distanz verkörpert. Der aus Litauen stammende Bariton Almas Svilpa, demnächst in Essen als Filippo II. in Don Carlo zu erleben, ist als Graf Tomski ein Schwergewicht in Stimme und Erscheinung.

Für die russische Sopranistin Elena Bezgodkova, in verschiedenen Tschaikowski-Rollen beheimatet, ist die Partie der Enkelin so etwas wie ein Heimspiel. Sie geht in ihr mit ihrem höhensicheren und glockenhellen Sopran und einem Spiel, das bis zur Selbstaufgabe reicht, förmlich auf. Wiesbaden verfügt mit ihr über eine Lisa, die jedes Ohr erreicht und erst recht jedes Herz erweicht. Vor allem im Newa-Bild, dieser Explosion an widerstreitenden Gefühlen. Anfänglich wähnt sie sich mit Hermann vereint. Vergessen sind die Qualen und Tränen/O mein Liebster, Ersehnter. Dann aber verraten und verschmäht. So ist es wahr: mit einem Verbrecher habe ich mein Schicksal verbunden. Viel stärker kann eine Stimme nicht verlöschen.

Aus der weiteren Besetzungsliste ragt Erik Biegel als Tschekalinski mit seinem schlanken, beweglichen Tenor hervor. Michelle Ryan als Mascha, Marek Reichert als Surin und Julian Habermann als Tschaplitzki füllen ihren jeweiligen Part adäquat aus. Der von Albert Horne prächtig einstudierte Chor fährt zum Schluss besonders viel Beifall ein. Er gilt sowohl den Damen wie den Herren des Ensembles, die zumeist in getrennten Formationen agieren.

Das Hessische Staatsorchester Wiesbaden unter der musikalischen Leitung des früheren GMD Oleg Caetani als Gast gibt den großen dramatischen Eruptionen wie den lyrisch verhaltenen Passagen bei besonderer Obhut für den fließenden Konversationston der Solisten die gebotene professionelle Grundierung. Die tiefe Passion des Komponisten für die Klarinette in all ihren Spielarten und sein Faible für alle weiteren Varianten von Holzbläsern finden zudem eine berückende Resonanz. Der Sinfoniker Tschaikowski – Pique Dame entsteht zeitgleich mit der fünften Sinfonie – hätte an der Position der Pauke in den ersten Bildern vermutlich seine Freude gehabt. Zur Steigerung des Effekts ist sie in der Loge rechts von der Bühne platziert.

Wie deutlich gerade mal 250 Besucher ihre Anerkennung gegenüber allen Mitwirkenden – auch für das Regieteam – und ihre Freude über das Erlebte zum Ausdruck bringen können, ist schon eine spezielle Erfahrung. Es macht, wie immer in der Kunst, nicht die Menge.

Ralf Siepmann