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Aktuelle Aufführungen
DON CARLO
(Giuseppe Verdi)
Besuch am
8. April 2022
(Premiere am 20. März 2022)
Ah! sil maledetto, sospetto. Im dritten Aufzug der vieraktigen Fassung von Giuseppe Verdis Don Carlo schlägt für Filippo II., Elisabetta von Valois, seine Gemahlin, Rodrigo, Marquis von Posa, und Prinzessin Eboli, die Dame der Königin, die Stunde des Selbstzweifels. Der König verflucht den Argwohn, bittere Reue zerreißt das Herz Ebolis, Elisabetta beklagt sich als von allen ausgegrenzte Fremde in Spanien. Rodrigo will nicht länger Zeit vergeuden. Es drängt ihn zur Tat. Die vier Stimmen, jede von ihnen zu Beginn ihrer geistig-emotionalen Bahn folgend, vereinen sich zu einem der schönsten Quartette im gesamten Werk des Genies von Sant‘Agata. Prägnant fließen die einzelnen Gesangslinien, ohne es auf Dominanz anzulegen. Wunderbar korrespondieren sie nach der Erkenntnis, der zufolge das Ganze mehr ist als die Summe ihrer Teile.
In der Wiesbadener Neuinszenierung, die der Mailänder Fassung von 1884 folgt, geben bei Ausnahme Filippos und Carlos zwei der vier Sänger dieses Quartetts ihr Rollendebüt. So unverändert auch in der vierten Aufführung nach der Premiere. Ein herausragender Augenblick, der leicht im Getriebe des Opernbetriebs untergehen kann, der sich gerade ein Stück weit aus den Corona-bedingten Restriktionen befreit. Ein Momentum, das es verdient, ins Bewusstsein gerückt zu sein.
Wenn die Neuinszenierung des Hausherrn Uwe Eric Laufenberg mit weiteren Vorstellungen bis in den Juni in Erinnerung bleiben sollte, dann vermutlich nicht ihrer Besetzung wegen. Gut einen Monat, gerechnet vom Termin der Premiere, nach Beginn des brutalen Putin-Krieges gegen die Ukraine liefert der Opernstoff mit dem Libretto von Joseph Méry und Camille du Locle nach Schillers Tragödie in der italienischen Fassung von Achille de Lauzières und Angelo Zanardini eine willkommene Vorlage, kultur- und gesellschaftspolitische Haltung zu demonstrieren. Das „Meisterwerk in unserer Zeit zu befragen und unsere Zeit in diesem großen Stoff“, wie es in der Ankündigung des Theaters heißt.
Diese „Befragung“ gipfelt mit einer drastischen Bildersprache im dritten Aufzug. Weiß-Rot- Weiß ist die Flagge, Symbol der neuen Protestbewegung in Belarus und Russland, die über dem Körper des erschossenen Rodrigo in der Gefängnisszene ausgebreitet wird. Blutbefleckt wird das Tuch im Finale dem Publikum entgegengehalten. Unprätentiös schwarz-weiß, aber gerade deswegen eindrücklich sind die Fotos des inhaftierten Alexej Nawalny, der ermordeten Anna Politowskaja, des zu einer langen Haftstrafte verurteilten Sergej Tichanowski und weiterer Oppositioneller in den Händen der flandrischen Deputierten, die Filippo um Gnade und Freiheit für ihre Heimat anflehen. Abbildungen von mutigen Widersachern der Tyrannei werden auch von den Mitgliedern des Chores, alias dem Volk, auf dem Platz vor der Kirche geschwenkt. Schillers Botschaft der Aufklärung, für Menschenrechte und gegen Unterdrückung, will Laufenberg so den Besuchern sagen, ist im Wüten blutiger Gewalt gegen wehrlose Zivilisten aktueller denn je.
Foto © Karl und Monika Forster
Ein Staatstheater zeigt Haltung. Bezieht eine klare Position in einer durch die Parteinahme pro und contra Kreml-Politik aufgeheizten Atmosphäre, in der die Kultur gefordert ist. Mit ihrer immanenten Kraft, zu benennen und die Perversion der Macht aufzuzeigen. Zumal in einer Stadt mit einer eigenen deutsch-russischen Geschichte seit dem 19. Jahrhundert, wie die schon von Weitem sichtbare russisch-orthodoxe Kirche auf dem Nero-Berg ausweist. Starke Momente, die beim Publikum im etwa zu zwei Dritteln besetzten Großen Saal Wirkung zeigen. Die stärkste emotionale Reaktion einer insgesamt gefeierten Aufführung. Doch zwingend notwendig? Entsprungen einem Zwang zur Selbstvergewisserung? Geschuldet einer mehr gefühlten, als real abgeleiteten Erwartungshaltung?
Das Engagement Schillers wie Verdis für die Freiheit des Lebens wie der Gedanken hat in diesem ursprünglich 1867 für Paris konzipierten Stück in der Text- wie in der Tonsprache eine Wucht entwickelt, die nicht wirklich der Verlängerung und Übersetzung in einer noch so abstoßenden Realität bedarf. Orrenda, orrenda pace! La pace é dei sepolcri! Als Posa dem König seine Sicht auf die unterdrückten Niederlande entgegenschleudert, entfacht die große Trommel aus der rechten Seitenloge auf Sichthöhe des Publikums einen akustischen Effekt, der alles sagt und keinerlei visueller Ergänzung bedarf. Als der Großinquisitor, der mit machtvollem Bass auftrumpfende Young Doo Park, in der grandiosen Auseinandersetzung mit dem weltlichen Herrscher diesem die Grenzen seiner Macht aufzeigt und ihm in die finale Stille des Augenblicks sein „Forse!“, dieses ambivalente „Vielleicht!“, hinterlässt, sind mehr Berührung und Betroffenheit virulent, als Laufenbergs Überhöhung innewohnt.
Kaum mehr als nice to have gilt für die Texte, die vor der ersten Mönchszene und zwischen den folgenden Bildern auf den Bühnenvorhang projiziert werden. Zitate von Schillerscher Eindringlichkeit, die kommentieren, was freilich nicht der Kommentierung außerhalb des Stoffes bedarf. Laufenberg hütet sich vor einer Gleichsetzung Filippos mit Putin, die auch historisch falsch wäre. Der spanische König handelt unter Respekt vor einer Staatsräson, was sich ja exemplarisch im Ringen um die Gefolgschaft Rodrigos zeigt, den Aluda Todua mit strahlender wie samtener Stimme gibt. Der Kremlchef dagegen agiert ausschließlich zur Stabilisierung seines Systems und in der Verfolgung imperialistischer Großmachtträume.
Wer ist dieser Filippo, dem vorrangig das Interesse des Regisseurs gilt? Laufenberg sieht in ihm eine zerrissene Persönlichkeit. Hier der Tyrann, der den Infanten seinem Herrschaftsanspruch opfert. Der die ausgebreiteten Abbildungen der Oppositionellen mit Füßen tritt. Der Elisabetta rabiat behandelt und sich mutmaßlich ihre Hofdame Eboli gefügig macht, was ihr Ende im Escorial bedeutet. Dort der in Misstrauen und Einsamkeit verfangene Mensch, der an der Distanz zu Elisabetta leidet und sich um sein Seelenheil im Jenseits sorgt.
Für diesen Fokus kann sich der Regisseur mit Timo Riihonen auf einen Sängerdarsteller stützen, der das weite Spektrum der Figur mit seiner imposanten Statur und seinem kräftigen und flexibel geführten Bass prächtig erfüllt. In Laufenbergs Sicht greifen die beiden Pole durchaus ineinander. Kaum ist die Klage des Königs über die Ausgrenzung seitens seiner Gemahlin und ihre Untreue ausgerechnet mit seinem Sohn, dem Infanten, geführt, entsteigt dem ehelichen Lager eine zunächst indifferente Person. Vorstellbar wäre sie als Mätresse des Königs. Bei Laufenberg entpuppt sie sich als Jüngling, als Mönchs-Novize vielleicht. Eine Irritation ganz sicher. Zum Rätsel der Regie steigert sich das morbide Spiel, als ein anderer Jüngling mit dem Habitus von Christus als Opfer des Autodafés vorgeführt wird.
Himmel und Hölle sind im Spanien des Jahres 1560 immer nah. Das mag auch den merkwürdigen Hang Laufenbergs erklären, warum die Protagonisten ihre Sache häufig im Knien, wenn nicht im Liegen ausfechten. Rolf Glittenbergs kahler Bühnenraum vor einem zumeist tiefschwarzen Hintergrund lässt das zudem noch besonders sichtbar werden. Akzente setzt im ersten Bild ein Holzkreuz, das einer Ansammlung von Totenschädeln entspringt. Später wachsen die Schädel zum Breitwandformat aus, als Posa und Filippo ihren Diskurs über Unterdrückung und Befreiung austragen. Auch das Kreuz erlebt diverse Verwandlungen, darunter eine schräg gestellte Version in der Gefängnisszene.
Foto © Karl und Monika Forster
Die Kostüme Marianne Glittenbergs scheinen darauf gerichtet, jeglichen royalen Pomp zu vermeiden. Lediglich im Aufritt zum Autodafé zeigen sich der König und seine Gemahlin im herrschaftlichen Ornat. Elisabetta bewegt sich ansonsten wie Eboli in einem langen Kleid ohne Taille, das sich von Hell über Blau zum Schwarz wandelt. Ein Umhang und High Heels betonen ihre besondere Stellung. Diese exponierte Mode ist auch offenkundig der Grund dafür, dass der Königin das aristokratische Schreiten fast unmöglich wird. Überdies wirkt dieser Mangel an Noblesse ansteckend. Nicht nur das Herrscherpaar, auch Rodrigo und der Graf von Lerma, rollengerecht interpretiert von Julian Habermann, nehmen vor dem Levée mit Volk, Verurteilten und Deputierten ihre Plätze ein, als bewegten sie sich auf einem Schützenfest.
Das Sängerensemble beherrscht Verdis akribisch gemeißelte Partitur mit ihren bruchlosen Übergängen von rezitativen und ariosen Sequenzen famos. In der Titelpartie überzeugt Rodrigo Porras Garulo mit kräftigem und angenehmem Legato. In den Duetten korrespondiert er besonders gut mit der Elisabetta Cristina Pasaroius, die ihre ausdrucksstarke Performance bis zu ihrem finalen Ausbruch Tu che le vanità zu steigern weiß. Alessandra Volpe ist eine Eboli mit dynamischen Ausbrüchen und tiefem Schmerz, lässt aber als selbsternannter Schutzengel des Infanten an Dramatik zu wünschen übrig.
An echten und falschen Mönchen ist kein Mangel. Gabriele Ascani schafft als Mönch in der Rolle von Karl V. die düstere Stimmung, die unter die Haut geht. Seungwon Choi ist als Mönch eine würdevolle Erscheinung, berührt aber unangenehm durch sein unnatürliches Vibrato. Fleuranne Brockway macht als Tebaldo gute Figur. Sumi Hwang ist als Stimme vom Himmel in ihrem kurzen Moment eine Offenbarung. Albert Horne hat Chor, Chorsolisten und Extrachor vorzüglich einstudiert. Das Hessische Staatsorchester Wiesbaden unter der Leitung Antonello Allemandis ist auf beglückender Verdi-Höhe, allen voran die Blechbläser.
Ein leichtes Aufatmen begleitet das Finale. Während der Infant ebenso wie der König in der kürzlichen Neuinszenierung in Essen vom Mönch alias Karl V. erschossen wird, gelingt es ihm in Wiesbaden, in das Kloster St. Juste zu fliehen. Im Original handelt der Mönch, der Carlo hinter die Mauern zieht. Hier ist es der Hoffnungsträger für Flandern selbst, der aktiv wird. Ein Schimmer von einer besseren Welt, zum Glück.
Ralf Siepmann