O-Ton

Kulturmagazin mit Charakter

Foto © Michael Pöhn

Aktuelle Aufführungen

Ein It-Girl namens Violetta

LA TRAVIATA
(Giuseppe Verdi)

Gesehen am
7. März 2021
(Premiere/Live-Stream)

 

Wiener Staatsoper

Sie steht ständig im Scheinwerferlicht und wird umschwärmt. Denn sie ist ein Pariser It-Girl, eine Influencerin, die in den heutigen sozialen Medien zuhause, aber auch gefangen ist. Ihr genießerisches Leben als teils sehr sexy angezogenes Partygeschöpf, das zudem auch für ein Parfümkette wirbt, ist der Schaugier der Massen ausgeliefert: So sieht es zumindest Simon Stone, der Giuseppe Verdis La Traviata ins Heute verlegt. Jetzt sieht man seine Inszenierung, die schon letztes Jahr an der Opéra national de Paris – sie ist eine Koproduktion mit diesem Opernhaus – gezeigt wurde, an der Wiener Staatsoper. Allerdings darf wieder nur eine Handvoll ausgewählter Journalisten ins Haus. Der Opernfreund kann sich die tragische Geschichte der Violetta über Stream oder im Fernsehen ansehen.

Und so flimmern fast ständig auf riesigen Videowänden SMS, Emojis, Herzen, Tränen und Selfies und andere Nachrichten herum. Instagram und Twitter sind omnipräsent, aber auch reißerische Schlagzeilen. Zudem sind immer wieder Videos und riesige Fotos der Titelheldin, manchmal gar nur von ihren Augen und teils auch von ihrem geliebten Alfredo zu sehen. Natürlich wirken das beinahe ständige Scheinwerferlicht und die häufigen Projektionen für den Betrachter recht anstrengend, überbordend und erschlagen manchmal regelrecht die realen Personen. Aber sie sind immer beeindruckend zeitgemäß. All das wird auf einen großen Kubus projiziert, der auf der sich recht häufig kreisenden Drehbühne montiert ist, wo sich die lebensnahe Tragödie abspielt. Auf dessen geöffneter Seite sieht man als Zentrum eine minimalistisch eingerichtete, weiße Spielfläche, die Bühne stammt von Robert Cousins. Hier wandert Violetta am Denkmal der Jean d’Arc, an einer Döner-Bude oder auch an einer Müllinsel vorbei. Das Landleben wird symbolisiert durch einen roten Traktor inklusive Heuballen und einer Scheibtruhe, die Alfredo vor sich herschiebt. Bis wieder rote Zahlenkolonnen im Hintergrund herunterrattern, die Violettas völlig überzogenes Konto und die bevorstehende Pleite dokumentieren sollen. Insgesamt ist die Bilderflut, die einen förmlich überschwemmt, schon grenzwertig, aber trotzdem imposant und topaktuell.

Foto © Michael Pöhn

In deren Zentrum steht immer Violetta. Pretty Yende spielt die immer mehr dahinsiechende Frau, die verzweifelt gegen die hoffnungslose Diagnose, aus Tuberkulose wird ein zeitgemäßer Krebs, ankämpft, mit größter Intensität. Und sie singt die Rolle mit perfekten Koloraturen, großer Innigkeit und Intimität. Vor allem im Finale im Krankenbett sind ihre Piani und ihr Spiel beim Sterben ergreifend. Zum Schluss schreitet sie in einen Spalt mit gleißendem Licht. Als Alfredo ist Juan Diego Flórez zu erleben: Er springt kurzfristig für Frédéric Antoun ein, der aufgrund der Covid-Beschränkungen die Reise nach Europa nicht antreten konnte. Für Flórez ist es nicht nur seine erste Wiener Traviata-Premiere, sondern – nach 125 Abenden im Haus am Ring – überhaupt sein erster Staatsopern-Alfredo. Er muss während des Brindisi singend Champagner in eine Gläserpyramide einschenken. Er schmachtet seine Violetta sehr an und singt ganz klar, sicher und mit viel Gefühl und weltmeisterlich mit seiner phänomenalen Höhe. Als Giorgio Germont erlebt man Igor Golovatenko. Darstellerisch sehr steif, singt er dessen Vater mit sehr kultiviertem Bariton, jedoch akzentreich und schwer verständliches Italienisch. Bei den Szenen von Vater und Sohn hätte sich man sich vom Regisseur auch eine detailliertere Personenführung gewünscht. Der gut und homogen singende Staatsopernchor, dessen Einstudierung Martin Schebesta besorgte, in ungemein exzentrischen, grellen Kostümen von Alice Babidge beim Fest ausgestattet, wird sehr lebendig und spielfreudig in Szene gesetzt. Auch die kleineren Partien sind von hohem Niveau, wie etwa Ilja Kazakov als Doktor Grenvil sowie Margaret Plummer als Flora und Donna Ellen als Annina.

Und ein echtes Hausdebüt feiert Giacomo Sagripanti, dessen steile Karrierekurve in den letzten Jahren nach Paris, München, Moskau, St. Petersburg, Dresden und Venedig führte. Der italienische Dirigent sorgt im Orchester der Wiener Staatsoper für einen sängerfreundlichen Klang, ist teilweise doch etwas zu zurückhaltend, aber es gibt auch immer wieder Momente von hoher musikalischer Intensität.

Die Kameras sind wieder ideal am Brennpunkt des Geschehens mit vielen Nahaufnahmen. Der Ton der Übertragung ist exzellent.

Geplant ist übrigens, dass Simon Stone nächste Saison an der Wiener Staatsoper Alban Bergs Wozzeck inszenieren wird.

Helmut Christian Mayer