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Abschiedswendepunkt

DER WENDENDE PUNKT
(Diverse Komponisten)

Gesehen am
30. Juli 2021
(Premiere/Livestream)

 

Bayerische Staatsoper München

Es ist ein ganz besonderes und in dieser Form sicher einmaliges Festkonzert, das die Bayerische Staatsoper da gestaltet. Unter dem etwas sperrigen Titel Der Wendende Punkt soll die jetzt zu Ende gehende dreizehnjährige Amtszeit des Intendanten der Bayerischen Staatsoper München, Nikolaus Bachler, gewürdigt werden. Von 2008 bis 2021 war Bachler Intendant, fortsetzen wird der mittlerweile 70-jährige seine Arbeit in Salzburg. Seit Juli 2020 ist er dort Geschäftsführender Intendant der Osterfestspiele, 2022 wird er auch künstlerischer Gesamtleiter. Wer nun erwartet, ein Konzert zu erleben, bei dem sich eine Nummer einfach an die andere reiht, mit vielen salbungsvollen Worten und Reden, die das Vermächtnis Bachlers unterstreichen und die Selbstbeweihräucherung unerträglich wird, der sieht sich getäuscht, und das ist auch gut so. Denn dieses Festkonzert ist so anders und doch so einmalig, dass es ganz sicher in die Annalen der Bayerischen Staatsoper eingehen wird.

Vier Dirigenten und 17 internationale Künstler, die die Intendanz von Nikolaus Bachler entscheidend mitgeprägt haben, geben sich und Bachler an diesem Abend die Ehre. Lediglich Anna Netrebko sagt aufgrund schwieriger Reisebedingungen kurzfristig ab, und Anja Harteros will sich am Vorabend der letzten Aufführung von Tristan und Isolde im Rahmen der Münchner Opernfestspiele dann doch lieber ganz auf Ihre Rolle fokussieren. Dennoch ist es das „Who is Who“ der Bayerischen Staatsoper, das sich vor etwa 1000 Zuschauern mit FFP-2-Masken im Opernhaus und weiteren 1.500 Zuschauern auf dem Marstallplatz, wo das Konzert auf einer Leinwand übertragen wird, die Ehre geben. Natürlich ist Nikolaus Bachler an diesem Abend präsent, aber in einer ganz anderen Form. Der gelernte Schauspieler kommt zwischen den musikalischen Stücken immer wieder selbst auf die Bühne und zitiert aus Ingeborg Bachmanns Gestundeter Zeit sowie den Orpheus-Sonetten von Rainer Maria Rilke. Ohne Pathos oder Wehmut, aber mit viel Gefühl und Ausdruck spricht er. Nur einmal scheint es fast persönlich zu werden, als Bachler die folgenden Zeilen rezitiert: „Errichtet keinen Denkstein. Lasst die Rose nur jedes Jahr zu seinen Gunsten blühn. O wie er schwinden muss, dass ihrs begrifft. Und wenn ihm selbst auch bangte, dass er schwände. Indem sein Wort das Hiersein übertrifft, ist er schon dort, wohin ihrs nicht begleitet. Der Leier Gitter zwängt ihm nicht die Hände. Und er gehorcht, indem er überschreitet.“

Ansonsten nimmt Bachler sich wohltuend zurück und überlässt den Sängern die Bühne, die aus Werken vortragen, die während seiner Intendanz als Neuinszenierungen auf dem Spielplan standen. Mit ganz wenigen Requisiten, aber teilweise in Originalkostümen, lassen sie diese Ära noch einmal lebendig werden, mit einer teilweise überraschenden Dramaturgie der Übergänge, die für Gänsehaut und magische Momente sorgen.

Nikolaus Bachler – Bildschirmfoto

Richard Wagner und Richard Strauss werden diesen Abend dominieren, dessen Opernspektrum von Monteverdi bis Korngold eine Zeitspanne von rund 350 Jahren umfasst.  Treffend beginnt es mit Richard Wagners Vorspiel aus dem Rheingold, dem Vorabend der Ring-Tetralogie. Kent Nagano ist der erste Dirigent, der den Orchestergraben betritt und vom Publikum enthusiastisch gefeiert wird. Nagano, der die ersten fünf Jahre unter Bachler GMD in München war, war im Streit geschieden. Doch die beiden scheinen ihren Frieden gemacht zu haben, auch das ein besonderes Zeichen der gegenseitigen Wertschätzung. Zu den Klängen des Rheingold, wo ein kurzer, aber böser Patzer bei den Bläsern für einen Schreckmoment sorgt, wird eine Videoeinblendung gezeigt, die das Orchester auf dem Weg in den Graben begleitet, sowie einige Einblicke in die Theaterwerkstätten. Der Verspieler wird aber der einzige hörbare Fehler an diesem Abend bleiben, denn nun entspannt sich ein Konzert, bei dem ein Höhepunkt den nächsten jagt. Den Auftakt macht die Sopranistin Anne Schwanewilms mit der Arie der Madame Lidoine aus dem dritten Aufzug der Oper Dialogues des Carmélites von Francis Poulenc: Mes filles, voilà que s’achève, die sie sehr gefühlvoll und lyrisch darbietet. Für den ersten magischen Moment aber sorgt Georg Zeppenfeld. Der diesjährige Bayreuther Daland und Veit Pogner gestaltet den Monolog des Sir Morosus Wie schön ist doch die Musik vom Ende des dritten Aufzugs aus Richard Strauss Die schweigsame Frau mit balsamischem Bass. Das ist Schöngesang in reiner Form. Zum Schluss des Monologes legt Zeppenfeld sich auf den Boden, den Kopf auf das zusammengefaltete Sakko gelegt, und haucht die letzten Takte im tiefsten Piano, um anschließend in der Unterbühne zu verschwinden. Das ist so einer dieser magischen Momente. Nagano begleitet dieses Stück ganz zart. Von Richard Strauss geht es weit zurück in die Anfänge der Opernliteratur. Claudio Monteverdis L’Orfeo steht auf dem Programm, und ein kleines Barockensemble unter der Leitung von Ivor Bolton wird auf die Bühne gefahren. Christian Gerhaher mit der Arie des Orfeo aus dem dritten Akt Possente spirto zeigt eine seiner vielen Facetten des ausdrucksstarken Gesangs mit kunstvoller baritonaler Veredelung. Das gilt auch für die Sopranistin Diana Damrau und ihrer Cavatine der Gräfin Porgi, amor aus dem zweiten Akt von Wolfgang Amadeus Mozart Le nozze di Figaro, die sie sehr gefühlvoll singt und von Ivor Bolton und dem Bayerischen Staatsorchester dabei getragen wird.

Für den ersten großen Gänsehautmoment sorgt die Grande Dame des Operngesangs, Anne Sofie von Otter, mit der Darbietung von Mozarts Abendempfindung KV 523, am Flügel ganz sensibel begleitet von Constantinos Carydis, der erst vor gut einer Woche mit der musikalischen Leitung der Neuinszenierung von Mozarts Idomeneo für Aufsehen gesorgt hatte. Und von Otter zeigt an diesem Abend ihre Ausnahmestellung, ihre Stimme trägt immer noch, und sie betont die silbernen Phrasierungen dieses so melancholischen Abschiedslieds mit dem Text von Joachim Heinrich Campe mit warmem Mezzosopran auf eine schon fast unnachahmliche Weise. „Abend ist‘s, die Sonne ist verschwunden, und der Mond strahlt Silberglanz; So entfliehn des Lebens schönste Stunden, fliehn vorüber wie im Tanz. Bald entflieht des Lebens bunte Szene, und der Vorhang rollt herab; aus ist unser Spiel, des Freundes Träne fließet schon auf unser Grab.“ Hier wird es auch für Bachler das erste Mal so richtig wehmütig.

Ermonela Jaho – Bildschirmfoto

Für einen besonderen Moment sorgen anschließend Pavol Breslik und Günther Groissböck mit zwei Arien aus Antonín Dvořáks Märchenoper Rusalka. Auf der Bühne ein Wasserbecken, in dem das weiße Kleid der Rusalka schwimmt. Breslik beginnt mit der Arie des Prinzen aus dem zweiten Akt Vidino divna, přesladka. Er bewältigt diese Arie mit strahlendem Tenor. Anschließend zeigt Groissböck, der erst vor wenigen Tagen in Bayreuth nach der Generalprobe zur konzertanten Aufführung der Walküre die Partie des Wotan zurückgegeben hat, warum sein Bass trotzdem zur Zeit so gefragt ist. Die Arie des Wassermanns aus dem zweiten Akt Běda! Běda! gestaltet er eindrucksvoll mit markantem Bass, während seine Hände wehmütig in das Wasserbecken tauchen und das körperlose Kleid der Rusalka liebkosen. Für den größten Gänsehautmoment des Abends sogen die nächsten beiden Darbietungen, die gefühlvoll ineinander übergehen. Die Sopranistin Ermonela Jaho, im Büßergewand der Suor Angelica, trägt aus Giacomo Puccinis gleichnamiger Oper die Romanze der Suor Angelica Senza mamma vor. Diese Arie gestaltet sie so innig und voller Emotionen, dass ihre echten Tränen, die die Kameraführung in der Großaufnahme einfängt, das Leid der Angelica körperlich spüren lässt. Mittlerweile ist Asher Fisch im Orchestergraben, und mit seinem gefühlvollen Dirigat unterstreicht er diesen emotionalen Moment, der sich dann noch ins fast Unerträgliche steigert, als von der Bühnendecke drei vergitterte Käfige mit einem Streichquartett wie vom Himmel herabschweben, die Musik von Puccini zu einem Ausschnitt aus dem dritten Satz von Ludwig van Beethovens Streichquartett Nr. 15 a-Moll op. 132 überleitet und Jaho, wie um Erlösung für Ihre Suor Angelica bittend, nach oben schaut, die Arme hoch ausgestreckt, das Gesicht tränenüberströmt. Das ist sicher der bewegendste Moment des Konzerts. Aus diesen fast überirdischen Sphären holt der Tenor Jonas Kaufmann das Publikum mit einer der markantesten Opernarien des italienischen Verismo auf die Bühne des Münchner Nationaltheaters zurück, die Arie des Andrea Chénier aus dem ersten Bild Un dì all’azzurro spazio aus der gleichnamigen Oper von Umberto Giordano. Kaufmann schont sich bei dieser Arie überhaupt nicht, obwohl er ja am Folgetag noch den letzten Tristan der Opernfestspiele in München vor sich hat. Und er beweist wieder einmal, dass man ihn bitte schön nicht auf das deutsche Heldenfach festlegen darf, denn im italienischen Verismo ist er genauso zuhause.

Der Pausenvorhang beendet den ersten Teil eines Konzertes, dass schon zu diesem Moment einen Ausnahmestatus erreicht hat, der im zweiten Teil noch übertroffen werden wird. Bevor es im zweiten Teil mit dem großen deutschen Block Wagner, Strauss und Korngold weitergeht, stehen noch zwei große italienische Arien auf dem Programm. Den Anfang macht der Bariton Alex Esposito mit der Registerarie des Leporello Madamina, il catalogo è questo aus dem ersten Akt der Oper Don Giovanni von Wolfgang Amadeus Mozart, die musikalische Leitung hat wieder Ivor Bolton. Und Esposito ist ein agiler Bassbariton, der die Registerarie nicht nur sehr markant gestaltet, sondern der Figur auch einen eigenständigen Charakter verleiht, der nicht nur Diener Don Giovannis ist. Die große Arie der Léonor O mon Fernand! aus dem dritten Akt der Oper La Favorite von Gaetano Donizetti gestaltet Elīna Garanča sehr ausdrucksstark mit schon fast hochdramatischem Mezzosopran.

Nun folgt ein großer Block mit Ausschnitten aus vier Opern von Richard Wagner, die schon allein für sich ein halbes Konzert gestalten können. Den Anfang macht die Sopranistin Anja Kampe, die die Erzählung der Sieglinde Der Männer Sippe aus dem ersten Aufzug der Walküre gestaltet. Kampe singt die Erzählung voller Inbrunst und mit großem Ausdruck, von Asher Fisch im Orchestergraben formidabel begleitet. Simon Keenlyside trägt das Lied des Wolfram von Eschenbach O du, mein holder Abendstern aus dem dritten Aufzug des Tannhäuser mit sehr viel Gefühl und liedhaft vor, fast schon in der Tradition eines Dietrich Fischer-Dieskau. Wieder ist es Asher Fisch, der mit seinem Dirigat den Sänger dienend begleitet. Den gesanglichen Wagner-Höhepunkt des Abends übernimmt Nina Stemme mit dem Schlussgesang der Isolde Mild und leise aus dem dritten Aufzug aus Tristan und Isolde. Dieser Liebestod ist fließend wie eine Woge, überirdisch schön, mit strahlenden Höhen und einem zarten Piano zum Schluss … höchste Lust! Diese Darbietung ist so ein Moment, wo Gänsehautgefühl, feuchte Augen und das Ringen nach Atem zusammenkommen. Und bei allem Respekt für die junge Lise Davidsen, die derzeit in Bayreuth und anderswo gehypt wird und als legitime Nachfolgerin von Birgit Nilsson gehandelt wird, wenn man solche Vergleiche überhaupt anstellen darf, dann trifft dieser auf Nina Stemme zu, die altersmäßig die Mutter von Davidsen sein könnte.

Nach dem berückenden Liebestod der Isolde übergibt Fisch den Dirigentenstab an den Vierten im Bunde, den ehemaligen GMD der Bayerischen Staatsoper, Kirill Petrenko, der für die Neuinszenierung von Tristan und Isolde nochmals an die Staatsoper zurückgekehrt ist. Und es ist, als sei er nie weggewesen. Das Vorspiel zum dritten Aufzug von Richard Wagners Die Meistersinger von Nürnberg ist schon eine Demonstration großer Dirigierkunst, die sich in den farbreichen Klängen aus dem Orchestergraben niederschlägt. Und dieses für Wagnersche Verhältnisse filigrane Orchestervorspiel geht nahtlos in den großen Monolog des Hans Sachs Wahn! Wahn! Überall Wahn! über.

Wolfgang Koch – Bildschirmfoto

Wolfgang Koch, der wohl dramatischste Wagner-Bariton unserer Zeit, sitzt vor seiner mobilen Schusterwerkstatt, einem alten Citroen aus den dreißiger Jahren, und deklamiert mit ausdrucksstarkem Gestus diesen Monolog. Koch und Sachs, das passt einfach wunderbar zusammen. Und wie findet man nach einer solchen Szene einen gelungenen Übergang zur Salome von Richard Strauss? Indem man einfach Marlis Petersen aus dem Auto steigen lässt, die sich dann noch schnell die frisch besohlten Pumps anzieht, und von Hans Sachs den Kopf des Jochanaan überreicht bekommt, diesen in eine Metallkiste steckt, um dann mit wirrem Gesichtsausdruck mal eben den Schlussgesang der Salome am Ende der vierten Szene Ah! Du wolltest mich nicht deinen Mund küssen zu interpretieren. Sie wechselt problemlos die Register, spielt mit der Stimme, und ist auch in den dramatischen Höhen leuchtend klar. Und genauso wunderbar ist der Übergang zum nächsten Stück, als Petersen die Kiste an Jonas Kaufmann übergibt, der an diesem Abend noch ein zweites Mal zu erleben ist, mit dem berückenden Schlussgesang des Paul O Freund, ich werde sie nicht wiedersehn am Ende des dritten Bildes aus Erich Wolfgang Korngolds Die tote Stadt. Diese Arie gestaltet Kaufmann sehr lyrisch und gefühlvoll und zeigt eine weitere Facette seiner stimmlichen und spielerischen Vielseitigkeit. Auch das ist Schöngesang in reinster Form. Von Korngold geht es wieder zurück zu Richard Strauss und seinem Rosenkavalier, der im März in der Regie von Barrie Kosky Premiere hatte, und für den Zeitmonolog der Feldmarschallin aus dem ersten Akt Da geht er hin, der aufgeblas’ne, schlechte Kerl kehrt Adrianne Pieczonka in dieser Rolle auf die Bühne zurück und verleiht mit ihrer immer noch berückenden Stimme der Marschallin Grandezza und Würde. Petrenko und das Bayerische Staatsorchester begleiten sie mit silberfarbenen Phrasierungen.

Zum Schluss kommt dann doch noch einmal Wehmut auf, denn wie könnte man Bachlers Abschied besser besingen als mit Franz Schuberts Abschied, D 475. Christian Gerhaher singt das Lied mit großem Gefühl und einer unnachahmlichen Intonation, begleitet am Flügel von Gerold Huber. Es ist das Sahnehäubchen auf ein großes und in dieser Form und Zusammensetzung sicher einmaliges Konzert, dass nach drei Stunden unter dem Jubel der Zuschauer zu Ende geht, und einem sichtlich gerührten und angefassten Nikolaus Bachler ein verdientes und würdiges Ende seiner Intendanz beschert.  Und wer das Konzert verpasst hat, kann es ab dem 3. August für eine Woche als Video on Demand kostenfrei abrufen. Es lohnt sich allemal.

Andreas H. Hölscher