O-Ton

Kulturmagazin mit Charakter

Foto © JMD

Aktuelle Aufführungen

Unbestimmte Freiheit

CARMEN
(Georges Bizet)

Besuch am
23. Juli 2021
(Premiere am 22. Juli 2021)

 

Junge Oper Schloss Weikersheim

Wer kennt sie nicht, die Carmen aus der Oper von Georges Bizet aus dem Jahr 1875, die sich nicht irgendwelchen Zwängen unterwerfen will, diese Zigeunerin mit dem unstillbaren Drang nach Liebe und Freiheit? Ins Heute übersetzt wird sie in der Inszenierung von Björn Reinke im Schlosshof von Weikersheim eine Backpackerin mit einem Rucksack voll traumatischer Erlebnisse, umgeben von einer Gesellschaft von Leuten aus der Untergrund-Szene, von Sprayern und Künstler-Aktivisten, die eintreten für Unabhängigkeit, sich engagieren in Demos, die dann von Polizeigewalt in Schach gehalten werden. Doch gibt es auch bei ihnen immer wieder Menschenfänger wie den Macho-Torero Escamillo, dem sie zujubeln, obwohl er wie eine Mischung aus Mafiaboss und Spitzenkandidat der obskuren Partei „Gens de coeur“ daherkommt. Ob durch ihn und seine Unterstützer, die laut Programm „Widerstand gegen Missstände und herrschende Verhältnisse“ leisten und Gesellschaft „verändernde Prozesse“ anstoßen wollen, wirklich etwas Gewaltfreies entsteht, mag bezweifelt werden, denn am Schluss stirbt ja Carmen, die personifizierte Unabhängige, getötet von José, Vertreter der vergangenen, restriktiven Gesellschaftsnormen, in einem Anfall von Eifersucht und Ohnmacht angesichts der ihn verwirrenden Zustände.

Foto © JMD

Dass ein solches Inszenierungskonzept zur Gänze überzeugt, ist einigermaßen fraglich. Denn diese herumtanzende, fröhlich orientierungslose Gemeinschaft aus kunterbunt zusammengewürfelten Leuten, durch die Kostüme von Angela Schuett als recht ausgeflippt gekennzeichnet, gefällt sich im Aktionismus, im Hier und Heute, im harmlosen Vergnügen ohne ein irgendwie konkretes Ziel. Die anfangs rot auf die Wand gesprühte Parole „Liberté“ ist das Motto, und die durchsichtigen Schutzschilde der Polizei verdecken es nicht. Nicht ganz klar ist, gegen welche Restriktionen man protestiert. Nur dass Carmen Grenzen und patriarchalische wie auch konventionelle Denkmuster überschreiten will, ist klar. Einer aber passt da nicht ganz ins Bild: Escamillo, denn er verkörpert das Bewusstsein von männlicher Überlegenheit und sexueller Ausstrahlung. Es erstaunt auch, dass die Künstler-Aktivisten einmal brav einen Stuhlkreis bilden auf einer der zwei leicht schräg über dem Orchester schwebenden runden Plattformen von Bühnenbildner Jürgen Franz Kirner. Diese Auftrittsflächen, über denen eine riesige bunte „Schicksalssonne“ steht, sollen einerseits an eine Stierkampf- oder Wahlkampfarena erinnern, bleiben aber ansonsten leer, ohne Möblierung, werden höchstens angestrahlt vom akzentuierenden Licht von Thomas Rösener. Diesen Freiraum aber müsste eine überlegte Personenregie mit Leben füllen. Davon ist kaum etwas zu merken, und so wirken manche Stellen der Oper statisch, eher wie eine konzertante Aufführung. Lediglich die Chor-Szenen des Künstler-Völkchens, mal tanzend, angeleitet von der Choreografie von Monica Burger, mal beschäftigt mit Spray-Aktionen und Plakate oder Fahnen schwenkend, bringen etwas Leben auf die Bühne. Regisseur Björn Reinke verzichtet bewusst auf „sexualisierende Kleidung, Hüftschwung und laszive Bewegungen“ bei Carmen – sie soll durch sie selbst „weibliche Faszination“ zeigen. Im Grund aber geschieht letzteres nur durch den Gesang. Auch die männlich verführerische Ausstrahlung des Escamillo teilt sich nicht mit, wenn er steif herumsteht und diese stimmlich auch nicht recht vermitteln kann. Dass Carmen mit Flügeln auch als „gefallener Engel“ kurz in Szene tritt und am Schluss majestätisch in einem Kostüm wie Lady Gaga mit der Friedenstaube an der Brust bei der Amtseinführung von Biden quasi geadelt als Vorkämpferin der Freiheit daher schreitet, unterstreicht den Stil- und Gedankenmix mit aktuellen Assoziationen, in dem Regenbogenfahne oder Beschriftungen auf nackter Brust nicht fehlen dürfen. „Zigeuner-Romantik“ mit der Diskriminierung dieser Bevölkerungsgruppe hat natürlich heute keinen Platz mehr auf der Bühne.

Foto © Michael Kral

Gut, dass da die Musik über viele unklare Leerstellen hinweghilft. Schon vor der Ouvertüre sieht das Publikum eine junge Frau mit Rucksack, die „Liberté“ auf die Wand sprüht, also mit Street-Art protestiert und vor sich hin summt; ihr Schlaflied Farashat ist im Programmheft nachzulesen. Sie will „Freiheit auf allen Ebenen“. Mit der Ouvertüre aber, mit viel Schwung und spritzigem Temperament, sehr konzentriert und prägnant gespielt vom großartigen Bundesjugendorchester, entsteht sofort eine fesselnde Atmosphäre.  Die ist gar nicht so leicht herzustellen, denn im weiten Schlosshof verschwimmen die Töne etwas. Aber es beeindruckt, wie Dirigent und musikalischer Leiter Elias Grandy die jungen, sehr aufmerksam mitgehenden Musiker zu einem homogenen, geschmeidigen, weichen Klang führt, zu feinen Abstufungen und oft geradezu neckischen Akzentuierungen. Als dann Soldaten einmarschieren – ein einzelner Kämpfer mit MP soll auf vorherige Kriegs-Gewalt hinweisen – um mit Schilden gegen Störer vorzugehen, sind bald auch die beiden weiblichen Hauptpersonen der Oper zu sehen und zu hören, Carmen und Micaëla, die zwei Gegenpole, die eine selbstbestimmt, widerborstig, aufbegehrend gegen alle Zwänge, die andere freundlich, angepasst, bürgerlich. Carmen scheint zuerst unter ihren Kolleginnen, die sich in der Pause aus ihren blauen Arbeits-Overalls herausschälen und mit ihren Reizen nicht geizen, relativ unauffällig, aber wenn sie ihre langen, schwarzen Haare fallen lässt und mit ihrem berühmten Preislied auf die Liebe, der Habanera, alle Aufmerksamkeit auf sich zieht, und als sie den etwas harmlos wirkenden José mit einer Blume anmacht, zeigt sie ihre wahren Ambitionen. Sie will emotional Unruhe stiften. Fiorella Hincapié, der hervorragenden Mezzosopranistin aus Kolumbien, gelingt das mit ihrer ausdrucksstarken, großen Stimme mit sinnlicher Note und tollen Steigerungen, stets präsent mit viel Elan. Sie fürchtet sich nicht vor dem Tod, von dem sie aus den Karten erfährt, als ihre Gefährtinnen, Mércédès, Magdalena Hinz, überzeugend in Spiel und Gesang, und Frasquita, Bogna Bernagiewicz, brillierend mit glänzenden Höhen, ihr die Zukunft weissagen wollen.  Carmens Gegenpart um die Gunst Josés aber ist die etwas biedere Micaëla; zwar verliert sie von der Handlung her, aber Silvia Sequeira aus Portugal übertrifft alle mit ihrem wunderbar tragfähigen Sopran, kann allen Schmerz anrührend ausdrücken und begeistert mit schönen Legati, strahlenden Höhen und variablen Färbungen. José aber, eine eigentlich unsichere Person, fühlt sich hingezogen zu Carmen, zum Abenteuer. Der Koreaner Leo Jaewon Jung beginnt mit etwas gaumigem Tenor, steigert sich aber immer mehr und gewinnt in der berühmten Blumenarie überzeugend lyrische Qualitäten und feine Höhen. Sein Rivale um Carmen ist Escamillo, ihm lediglich an körperlicher Größe überlegen; Hao Wen aus China aber kann nicht unbedingt durch Strahlkraft eines heldischen Baritons in seinem bekannten Torero-Auftritt überzeugen, bei flacher Tongestaltung und etwas fehlender Tiefe. In der zum Künstler-Treff umfunktionierten Schenke versammelt sich das muntere Völkchen, transparent und abwechslungsreich gesungen vom Chor, angeführt von Dancairo. Gideon Henska, und Remendado, Marcelo Alexandre; klangschön ihr Quintett mit den drei „Zigeunerinnen“. Die Soldaten Zuniga, Christoph Schweizer, und Moralès, Johannes Worms, vervollständigen die Männerriege. Insgesamt macht die Dramatik des Gesangs die etwas schematische Bewegung auf der Bühne wieder wett. Am Schluss, als José Carmen erstochen hat, zerbirst der Sonnenkreis, nur ein kleines Mädchen erscheint mit einem roten Luftballon-Herz. Symbolische Bedeutung?

Das Publikum auf der Corona-bedingt etwas ausgedünnten, aber ausverkauften Tribüne ist völlig begeistert und feiert alle Mitwirkenden des international besetzten Ensembles der Opernproduktion der Jeunesses Musicales Deutschland mit vielen Bravos, Trampeln und langem Beifall.

Renate Freyeisen