O-Ton

Kulturmagazin mit Charakter

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Aktuelle Aufführungen

Wenn’s unter die Haut geht

TAG DER GNADE
(Neil LaBute)

Besuch am
11. Juni 2023
(Premiere am 8. Juni 2023)

 

Rotationstheater, Remscheid

Drastischer, ja, perfider, kann man ein Theaterstück kaum aufhängen als der US-amerikanische Autor Neil LaBute im Jahr 2002 mit The Mercy Seat. „Ich möchte den ground zero in unser aller Leben untersuchen, dieses weit offene Loch in uns selbst, das wir mit Kleidern von Gap zuzudecken versuchen, mit Parfüm von Ralph Lauren und Handtaschen von Kate Spade. Warum sind wir bereit, hundert Meilen im Kreis zu laufen, nur um dann zu jemandem zu sagen: ‚Ich weiß nicht, ob ich dich noch liebe‘. Warum? Deshalb doch, weil Nikes billig sind, Herumlaufen so einfach ist und Ehrlichkeit die härteste und kälteste Währung auf dem gesamten Planeten darstellt“, sagte LaBute über sein Stück, das zu den ersten vielbeachteten Reaktionen des Theaters auf den Angriff auf das World Trade Center in New York zählt.

Am 11. September 2001 fliegt das Flugzeug der American Airlines um 8.46 Uhr amerikanischer Zeit in den Nordturm des World Trade Center, um 9.03 ein Flugzeug der United Airlines in den Südturm. Nach heutigem Wissen waren dafür Flugzeugentführer der islamistischen Terror-Organisation Al-Qaida verantwortlich. Es gab nach heutigem Stand 2.977 Anschlagsopfer. Die Handlung von Tag der Gnade – so der deutsche Titel – setzt am 12. September ein. Abby und Ben arbeiten eigentlich in dem doppeltürmigen Bürohochhaus, sie als seine Chefin, in der amerikanischen Version ist sie zehn Jahre älter als er, besitzt ein großzügiges Apartment in bevorzugter Lage. Ben sitzt auf dem Sofa, als Abby hereinkommt und Käse mitbringt – ein weiteres amerikanisches und inzwischen auch mehr und mehr deutsches Wohlstandssymbol. Spätestens hier wird es Zeit, sich in das Geschehen im Keller des Rotationstheaters in Remscheid einzuklinken. Da findet gerade die Reprise der Premiere vom 8. Juni statt. Eine Projektion auf die Rückwand der Bühne hat noch einmal das Geschehen am ground zero gezeigt, dem Ort der eingestürzten Bürotürme. Das Wohnzimmer ist alles andere als weitläufig, ja, eher piefig. Das spielt keine Rolle, denn die nachfolgende Handlung erfordert keinen Raum. Es gibt sie nicht. Wie im amerikanischen Theater und das nicht erst seit Woody Allen üblich, findet in den folgenden anderthalb Stunden kein Spiel, sondern Gespräch statt. Eine Unart, die in den vergangenen Jahren auch in Deutschland immer mehr um sich greift. Ob das die Begeisterung des deutschen Publikums steigert, überhaupt noch ins Theater zu gehen, soll an dieser Stelle nicht diskutiert werden. Denn Regisseur Oliver Scheemann gelingt es, so viel Bewegung auf die Bühne zu bringen, dass die fehlende Handlung dem Publikum nicht weiter auffällt. Er kleidet Abby in ein farbloses Etui-Kleid und behauptet sie als Anfang 30, Ben bekommt einen dunklen „Business“-Anzug, dessen Sakko er alsbald ablegt und damit seine völlig inadäquate Krawatte verschoben und zu kurz auf einem Wohlstandsbäuchlein zeigt. Offenbar ist der „glücklich verheiratete“ Vater zweier Mädchen nun zehn Jahre älter als sie. Das wirkt stringenter und damit glaubhafter.

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Schnell zeigt sich der geniale Schachzug Scheemanns, „9/11“ nur kurz als Projektion zu zeigen. So kann der Zuschauer sich gänzlich auf den Dialog von Ben und Abby konzentrieren – und damit hat er allemal genug zu tun. Nach dreijähriger Beziehung scheint sich hier einiges abgekühlt zu haben. So klingt es gleich nach der Eröffnung von Havarti-Käse und Weinflasche an. Frostig wirkt es in dem kleinen Wohnzimmer. Und schwer verständlich. Lange bleibt das Publikum im Unklaren darüber, was die immer wieder wechselnden Fragen und bissigen Bemerkungen Abbys eigentlich sollen. LaBute hat das stilistische Mittel Wendepunkte genannt, Regisseur Scheemann spricht von „Klapp-Sätzen“. Gemeint ist wohl dasselbe. Immer wieder bricht Abby vollkommen unvermittelt den Gesprächsfaden ab, um in eine neue Richtung vorzustoßen – und Ben damit vollkommen zu irritieren.

Dabei hatte der sich das alles so schön vorgestellt. Seine Familie muss davon ausgehen, dass er unter den Anschlagsopfern ist, weil er ihre andauernden Anrufe nicht annimmt – dabei hatte doch ein Tête-à-Tête mit Abby in ihrem Apartment dafür gesorgt, dass sie seinen Penis im Mund hatte, während die Flieger in die Hochhäuser krachten. Von der Bühne kommen hier deutlichere Begriffe. Jetzt könnte er also bequem „tot“ aus der Angelegenheit hervorgehen, mit Abby untertauchen und ein neues Leben beginnen. Es gelingt ihm nicht, seine Begeisterung über die unerwartete Wendung mit Abby zu teilen. Die wird plötzlich sehr moralisch – wie soll er mit dieser Erwartung umgehen, die so gänzlich seinen Träumen entgegensteht? Sie will tatsächlich, dass er erst mit Frau und Kindern reinen Tisch schafft. Die informelle Diskussion unter Zuschauern zeigt im Anschluss, dass Männer die Träumereien Bens sehr viel besser nachvollziehen können als die Frauen.

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Bei der Uraufführung standen am 18. Dezember 2002 Liev Schreiber und Sigourney Weaver auf der Bühne, in Berlin waren es bei der deutschen Erstaufführung die in der bundesrepublikanischen Hauptstadt schwer gehypte Dagmar Manzel und Robert Gallinowski, die die Zuschauer begeisterten. Im Rotationstheater im Remscheider Stadtteil Lennep stellen sich Nathalie Dudzik und Andreas Strigl der anspruchsvollen Aufgabe, das Beziehungsdrama, das von einer Komödie weit entfernt ist, auf die Bühne zu bringen. Chapeau!

Strigl erzählt nach der Aufführung, wie schwer es ihm gefallen sei, das Stück zu verstehen. Dass er es vollständig durchdrungen hat und permanent auf die Pointe zuarbeitet, weiß das Publikum zu diesem Zeitpunkt. Abermals wird ihm zur gelungenen Darstellung gratuliert, vor allem, was sein letztes Telefonat angeht. Das geht durch Mark und Bein. Dass Dudzik das Spiel über lange Zeit zu beherrschen scheint, hilft ihr letztendlich nicht. Aber bis dahin ist sie einfach großartig. Glaubhaft in der erotischen Ausstrahlung, schnippisch und hoch moralisch hat sie hier abermals eine Paraderolle gefunden, nachdem sie ihre Wandlungsfähigkeit in der letzten Produktion Der letzte der feurigen Liebhaber bereits unter Beweis gestellt hat.

Tag der Gnade wird in der kommenden Spielzeit wieder aufgenommen. Ab Herbst haben dann die Remscheider noch einmal Gelegenheit, sich im Rotationstheater auf die Bosheiten des Alltags vor dem großen Weltgeschehen einzulassen. Und das sollten sie unbedingt wahrnehmen. Das Rotationstheater geht einen mutigen Weg, wenn es neben Comedy und Kabarett versucht, ernsthaftere zeitgenössische Stücke zu zeigen. Da ist den Remscheidern zu wünschen, dass sie das Angebot auch annehmen. Überregional wirkt das dann schon ganz von selbst.

Michael S. Zerban