O-Ton

Kulturmagazin mit Charakter

Foto © Birgit Hupfeld

Aktuelle Aufführungen

In schillernder Zweideutigkeit

MEDEA
(Euripides)

Besuch am
19. Juni 2021
(Premiere am 17. Juni 2021)

 

Ruhrfestspiele Recklinghausen, Ruhrfestspielhaus, Großes Haus

Nur wenige Theaterstoffe  haben so viele Bearbeitungen, Veränderungen und Inszenierungen erfahren wie der Mythos um die griechische Königstochter Medea, die „Ratwissende“ und  Mehrfachmörderin, die als klassische Inszenierungen, Open-Air-Versionen oder abstrakt-moderne, kühl-rationale philosophische Akzentuierungen bis zu  hoch emotionalen Wanderbühnen in fremden Sprachen und ausschließlich farbigen Darstellern in einer Felsenwüste vor den Toren Kapstadts in Südafrika immer neue Formen zeigen. Die Sichtweisen und Interpretationen reichen von einem Bühnenkrimi über Tanzinterpretationen bis zu  philosophischen Schulen im Sinne der griechischen Tradition des Aristoteles. Zum diesjährigen 75-jährigen Jubiläum haben die Ruhrfestspiele eine Inszenierung des Berliner Ensemble eingeladen, das mit einer von Michael Thalheimer eingerichteten modernen Fassung ein griechisches Drama ins Ruhrgebiet holt.

Als sich der Vorhang öffnet, bleibt die Bühne nahezu dunkel, Schwarz ist die alles beherrschende Farbe. Lediglich auf einer erhobenen Stufe zeichnet sich im Hintergrund ein Kleidungsstück, eine Person ab, im Detail nicht zu erkennen: In einem weißen Kleid oder Umhang, mit schwarz geschminkten Augenhöhlen, erscheint  Medea,  eine Königstochter von göttlicher Abstammung aus dem alten Kolchis auf der Bühne. Von der Seite betritt eine in schwarzem Umhang gekleidete Frauenfigur, die Amme, die vordere Szene und beginnt zu monologisieren.  Den Chor repräsentiert Bettina Hoppe. Constanze Becker gibt eine  kühle Medea, die zwischen der alten Ordnung aus Kolchis und dem neuen Griechenland in  Korinth changiert. Dramaturgin Sibylle Baschung sieht in Medea „eine Frauenfigur, die ihre Umgebung durch Intellektualität, Schönheit, rhetorische Kraft und kämpferische Entschiedenheit weit überragt“ – einerseits. Andererseits tritt sie als „willensschwach“ auf, der die Grausamkeit ihrer Tat, dem Kindesmord wohl bewusst ist, die aber zu schwach ist, die Stärke ihrer Leidenschaft, ihr Streben nach Rache zu zügeln. Kleine, begrenzte weiße Spotlights unterstreichen die düstere, kühle Stimmung der Bühne, bis auf die Personen  bleibt die Bühne leer. Ankerpunkte für den Beginn einer Handlung sind nicht erkennbar, die Monologe und Dialoge der agierenden Personen dienen als Protokoll für die Zuschauer, die im Programm auf Schreckliches vorbereitet werden. „Zutiefst verletzt von diesem Verrat, gnadenlos verstört ob Jasons schamloser Missachtung von Ehebund und Treueeid, entwirft Medea einen grausamen Racheplan. Aus maßloser Liebe wird maßloser Zorn: Medea beschließt, die gemeinsamen Kinder zu töten.“  Und das ist ihr noch nicht genug: “Drei Feinde mach ich heute noch zu Leichen: den Vater, die Braut und meinen Mann.“ Schritt für Schritt setzt Medea ihre furchtbaren Rachepläne in Gang und trifft damit ihre Feinde wie auch sich selbst. Ihre Amme ahnt es schon: „Ich fürchte, sie brütet etwas aus.“ Und zeigt darin ihre „schwarze Leidenschaft.“

Um diese schrecklichen Ereignisse drehen sich die Monologe und Dialoge der Protagonisten. Neben Marc Oliver Schulze als Jason tritt Martin Rentzsch als Kreon auf. Constanze Becker als Medea nutzt  sprachlich wie darstellerisch alle Möglichkeiten, um die Ambivalenz der Figur Medea zu zeigen,  sie holt damit die Figur der Medea aus der griechischen Mythologie in die Gegenwart. Wenn sie Schritt für Schritt ihre Rachepläne Wirklichkeit werden lässt, die sich in letzter Konsequenz, gipfelnd im Kindesmord, gleichermaßen gegen ihre Feinde wie auch gegen sich selbst wenden, fallen dem Zuschauer unwillkürlich Zeitungsmeldungen der letzten Zeit ins Gedächtnis.

Medea, ihrem Namen nach „die Ratwissende“, muss erkennen, dass sie in ihrer Umgebung wie letztlich am eigenen Leben scheitert, die „Magierin und Zauberin, Hexe großen Stils, Enkelin des Helios“ wird selbst zur Ratlosen.

Die Zuschauer, die schon lange wieder auf Theater live gewartet haben, erleben mit der Berliner Inszenierung eine inhaltlich problembeladene, sehr modern gestaltete Tragödie in klassischer Dramatik und eine sparsam, aber höchst wirksam dargestellte Zuspitzung der Unerklärbarkeit menschlichen Handelns. Erneut erfahren sie die Unersetzbarkeit von Live-Theater und bedanken sich mit lang anhaltendem Beifall und  Bravo-Rufen für das Erlebnis: trotz Corona – das Theater lebt.

Horst Dichanz