O-Ton

Kulturmagazin mit Charakter

Foto © JR Berliner Ensemble

Aktuelle Aufführungen

Die im Dunkeln sieht man nicht

DIE DREIGROSCHENOPER
(Kurt Weill)

Besuch am
8. Juni 2022
(Premiere)

 

Ruhrfestspielhaus, Großes Haus, Recklinghausen

Barrie Kosky, in Melbourne geborener Deutsch-Australier, bringt mit seiner Inszenierung der Dreigroschenoper, die 1928 in Berlin uraufgeführt wurde, eine moderne Fassung des Bühnenklassikers von Bertolt Brecht und Kurt Weill zu den Ruhrfestspielen. Die 2021 von Kosky und dem Berliner Ensemble neu auf die Bühne gebrachte und furios gespielte Dreigroschenoper spielt zwischen der Welt des Verbrechens und der Prostitution und verzichtet weitgehend auf die Elemente des Berliner Nachtlebens, versucht sich stattdessen mit zeitlos politischen Aussagen. Brecht geht es nicht um das „reale Verbrechermilieu“, sondern um solide  „Gesellschaftskritik“. Er sieht in der Gesellschaft der 1920-er Jahre einen „Zerrspiegel des totalen Kapitalismus“.

In dem bühnenfüllenden, schwarz-silbern glitzernden Fadenvorhang versteckt sich ein stark geschminkter, ebenfalls silbern glitzernder Frauenkopf, Celia Peachum, Frau des Bettlerkönigs Jonathan Jeremiah Peachum. Nach Öffnung des Vorhangs zeigt sich ein schwarzes Eisengerüst, das die Schauspieler während des Spiels vielfach als Klettergerüst nutzen. Selbst der Schatten des Gerüsts wird zum „Mitspieler“ und fordert von den Schauspielern alle möglichen Eskapaden, waghalsige Klettertouren und Stellungen vom Bühnenboden bis zur obersten Kletteretage – beeindruckend. Der Schauspielercrew des Berliner Ensembles wird alles abgefordert: Kletterpartien im Gerüst, Verfolgungsjagden, blutige Auseinandersetzungen, bis hin zur Schlussszene, in der Macheath mit dem Galgen Bekanntschaft macht.

Foto © JR Berliner Ensemble

Zahlreiche Inszenierungen der Dreigroschenoper, die in jeder Spielzeit auf den Spielplänen diverser Theater stehen, spielen lustvoll mit den Accessoires der Verbrecher- und Hurenwelt und machen ein Musical aus diesem gesellschaftskritischen Bühnenwerk. Doch selbst Macheath, der Konkurrent des Bettlerkönigs Peachum, streut sich Goldregen auf sein gepflegtes Haupt, bevor ihn der Londoner Polizeipräsident Tiger Brown einbuchtet. Die im Tonfall häufig schrillen Songs haben mit den gefälligen Schlagern der Operettenwelt der 20-er Jahre nicht viel mehr zu tun, sie treiben die Geschichte voran. Die siebenköpfige Band, bei der vor allem die Blechbläser und das Schlagzeug Kurt Weills neuen Sound präsentieren, geben dem Stück den bekannten Klang, der in den Songs von Mackie Messer, der Seeräuber-Jenny, dem Kanonensong und dem Song vom angenehmen Leben seinen unverwechselbaren Klang erhalten hat und ihn unvergessen macht.

Die Figuren, im Unterschied zu vielen anderen Inszenierungen, treten nicht als zerlumpte Bettler von J. J. Peachums Gnaden auf, sie stellen wohl situierte, teils elegant gekleidete Bürger dar, bei denen es vor allem auf den – falschen – Schein ankommt. „Wir wären gut, anstatt so roh, doch die Verhältnisse, sie sind nicht so.“ Wie alle anderen Figuren wird auch Polly, die Tochter der Peachums, ein „berechenbares Objekt“. Nico Holonics ist und bleibt ein eleganter, gleichwohl skrupelloser Chef der Straßenbanditen, der seine Rolle als Banditenchef ebenso beherrscht wie die des fast bürgerlichen Verehrers von Polly. Cynthia Micas gibt eine elegante, lebhafte Polly. Der Theaterwissenschaftler Patrick Primavesi  bestätigt Brechts Analyse, dass seine „Welt alles zur Ware macht“, und sich „damit auch das Theater selbst als Ware erweist“. Das Berliner Ensemble bietet zur Neuinszenierung ein 40-seitiges Programmheft an, das nicht nur stück-relevante Informationen enthält, sondern sich in mehreren Beiträgen mit literatur- und theaterwissenschaftlichen Fragen befasst. Die Beiträge gehen deutlich über das Stück hinaus, dürften aber für den interessierten Besucher nützlich sein, wenn Sybille Baschung etwa von der „Befreiung der Musik von der Handlung“ spricht und behauptet: „Für die Opernbühne war das Werk revolutionär.“

Es kommt nicht oft vor, dass sich Besucher der Ruhrfestspiele bei den Schauspielern mit Blumen, gar mit Blumensträußen bedanken. Wenn es dann gleich mehrere Sträuße sind, muss die Begeisterung der Zuschauer groß sein. Offensichtlich ist es ein theaterkundiges Publikum, dass sich für diese Neuinszenierung bei Regie und den Schauspielern des Berliner Ensemble nach knapp drei Stunden bedankt und viel Gefallen an dieser neuen Dreigroschenoper findet.

Horst Dichanz