O-Ton

Kulturmagazin mit Charakter

Foto © Jürgen Paust-Nondorf

Aktuelle Aufführungen

Der Augenblick so schön

SZENEN AUS GOETHES FAUST
(Robert Schumann)

Besuch am
11. September 2021
(Einmalige Aufführung)

 

Konzertchor Ratingen, Stadthalle Ratingen

Wie viele Chöre die Maßnahmen der Regierung zur Bekämpfung des Corona-Virus überleben werden, wird sich noch zeigen. Derzeit gibt es die ersten Bemühungen, sie wieder auftreten zu lassen. Und so lädt der Konzertchor Ratingen endlich wieder zu einem Konzert in der Stadthalle ein. Erst einen Monat zuvor wurde das Konzert angekündigt, um sicherzugehen, dass nicht irgendeine neue staatliche Richtlinie doch noch eine Absage erzwingt. Nun ist es endlich so weit. Und – man fasst es eigentlich nicht mehr – noch immer muss der Konzertchor immer unsinniger erscheinende Restriktionen auf sich nehmen. An die Aufführung großer Werke ist sowieso nicht zu denken, wenn man nicht gerade wie das Chorwerk Ruhr den Elias in die Jahrhunderthalle Bochum verlegen kann.

Deshalb greift Thomas Gabrisch, musikalischer Leiter des Konzertchors, auf ein Stück zurück, das ihm eine Aufführung im Juni dieses Jahres im Rahmen des Schumannfestes in Düsseldorf ermöglichte, zu der Zeit „selbstverständlich“ ohne Chor. Mit elf Solisten der Musikhochschule konnte er Szenen aus Goethes Faust von Robert Schumann im Palais Wittgenstein in einer Klavierfassung aufführen. Jetzt wird es also eine größere Fassung geben, die aber immer noch mit Kompromissen auskommen muss. Der Chor wird auf 49 Sänger verkleinert – so viele Menschen haben nach den geltenden Bedingungen Platz auf der Bühne der Stadthalle – die Zahl der Solisten wird auf sieben reduziert und die Bläser der Sinfonietta Ratingen bleiben außen vor. Stattdessen hat Gabrisch eigens ein Arrangement für Klavier und Orchester geschrieben, dass es ihm erlaubt, das Orchester vor den Solisten und dem Chor zu platzieren. Und nachdem auch das Platzangebot für die Besucher reduziert ist, muss es funktionieren.

Im Vordergrund Tomas Kildisius – Foto © Jürgen Paust-Nondorf

Für die Musiker und Sänger ist es trotzdem ein beglückender Moment, als sie in der Stadthalle erleben dürfen, dass das Stammpublikum ihnen treu geblieben ist. Nachdem der Chorvorstand eine vollkommen überflüssige Ansprache gehalten hat, die wohl einzig dem Zweck dient zu beweisen, dass er den Gender-Gaga-Sprech beherrscht, und sich ansonsten über annähernd zehn Minuten in Redundanzen verliert, dürfen endlich Solisten und Dirigent den Raum betreten und sich an ihren Platz begeben.

Man braucht nicht darüber zu diskutieren, dass man die Bläser nicht allein durch einen Flügel ersetzen kann, aber Rie Sakai sorgt mit ihrem Klavierspiel immerhin dafür, dass es nach einem interessanten Experiment klingt. Auch sonst sorgen die Akteure für Abwechslung in den Klangeffekten, indem die Sänger sich immer wieder neu positionieren. Der Chor kann die Abstandsregeln durch wechselnde Gruppierungen und daraus resultierende „Mannschaftsstärke“ gut kompensieren. Trotzdem verliert die Akustik erheblich. Was in erster Linie zu Lasten der Solisten geht. Aber da hat Gabrisch gelernt. Und so erhalten die Besucher ein Programmheft, in dem die gesungenen Texte abgedruckt sind. Denn die Textverständlichkeit reicht bei dieser Raumaufteilung kaum über die ersten beiden Zuschauerreihen hinaus. Und dieses Angebot wird augenscheinlich gern vom Publikum angenommen.

Das Besondere an den Solisten dieses Abends: Sie stammen alle aus der Gesangsklasse Konrad Jarnot der Düsseldorfer Musikhochschule und haben ihren Professor auch gleich mitgebracht, der selbstverständlich den Faust übertragen bekommt. Für ihn ein Freundschaftsdienst an Gabrisch und willkommene Gelegenheit, seinen Sängern eine Auftrittsmöglichkeit zu verschaffen. Um das Rollenaufgebot, das Schumann in seinem Werk vorsieht, in den Griff zu bekommen, müssen die Sänger mehrere Rollen übernehmen, was aber dank des Programmheftes kein Problem darstellt.

Julia Wirth, Pauline Gropp und Konrad Jarnot – Foto © Jürgen Paust-Nondorf

Eigentlich möchte Jarnot gar nicht mehr auftreten. Er sieht seine Stärke in der Anleitung seiner Studenten und hat mehr Spaß daran, ihre Erfolge zu feiern. Wie beispielsweise den von Valerie Eickhoff, die an diesem Abend den dritten Platz im ARD-Musikwettbewerb Gesang belegt und damit eine Spitzenleistung abliefert. Aber selbst wenn er sich bemüht, sich zurückzunehmen, um seine Schüler leuchten zu lassen, schimmert die Grandezza in Stimme und Haltung durch, die das Publikum in ihren Bann zieht. Davon hat Bassbariton Tomas Kildisius sich viel abgeguckt. Er singt den Mephistopheles in einem Stadium, in dem er ohne Corona vermutlich längst in andere Umlaufbahnen abgehoben wäre. Seine Art, jedes einzelne Wort zu formen, als sei es gerade das Wichtigste in der Welt, paart sich mit einer wunderbar ausgereiften Technik und einem Charme, der jede Schwiegermutter vom Rollator fegt. Dabei – und so etwas lernt man bei Jarnot, wenn man will – gibt er nicht den Platzhirsch, sondern sieht Gesang als Teamarbeit.

In Jarnots Händen sind viele Kehlköpfe zu Goldkehlen geformt worden, so in der jüngeren Zeit etwa Monika Rydz, Anna Rabe, eben Valerie Eickhoff, oder jetzt möglicherweise Julia Wirth, die heute Abend unter anderem als Gretchen gelegentlich mehr als Durchschnitt anklingen lässt. Sie wirkt so, als sei sie dabei, sich aus ihrem Kokon zu befreien, sofern man das beim zweiten kurzen Eindruck in einer ungewöhnlichen Rolle beurteilen kann. Auch die übrigen Solisten – Pauline Gropp, Kim Holtappels, Pauline Asmuth, Jakob Kleinschrot mit sehr gefälliger, weicher Stimme oder Eetu Joukainen – lassen an Professionalität nichts vermissen und bieten einen formvollendeten Auftritt. Eines macht der Abend deutlich: Es wird dringend Zeit, dass die Studenten sich wieder in Auftritten der Opernklasse zeigen. Und so machen sie das Manko der Akustik mehr als wett.

Die Sinfonietta Ratingen, ebenfalls stark reduziert, folgt dem überaus engagierten Dirigat Gabrischs mit sichtlichem Vergnügen. Hier schiebt keiner Orchesterdienst. Und so darf die Musik auch schon mal im Eifer des Gefechts ein wenig lauter werden als eigentlich geplant. Das Überschäumende hatte Gabrisch schon am Klavier im Palais Wittgenstein praktiziert und war dafür vom Publikum mit Applaus überschüttet worden.

Auch die „Hauptperson“ des heutigen Abends, der Konzertchor Ratingen, ist mit vergleichsweise kleinen Einsätzen zu hören – was ja der Aerosolbelastung des Saales zu Gute kommt, oh Gott, man kann diesen Quatsch nicht mehr hören. Aber was den Ohren richtig Spaß macht, ist die Freude, mit der die Chormitglieder dabei sind. Nein, die Zwangspause mit Proben am Computer oder in eingeschränkten Gruppen, die frierend in offenen Zimmern üben, hat dem Chor in keiner Weise geschadet. Ja, man möchte sogar unter dem Eindruck des heutigen Abends sagen, dieser Chor sei gestärkt aus der Krise hervorgegangen. Keiner, der hier nicht hochkonzentriert das Geschehen verfolgt, niemand, der „schiebt“, jeder Fingerzeig des Dirigenten führt im positiven Sinne zu höchster Anspannung.

Auch insofern darf das Publikum trotz aller Widrigkeiten einen ganz besonderen Abend erleben. Nach anderthalb Stunden wirkt es erschöpft – übrigens wie auch die Akteure auf und vor der Bühne – lässt es sich aber nicht nehmen, mit herzlichem Applaus Danke zu sagen für eine ungewöhnliche und fesselnde Aufführung. Ohne fröhlichen Ausklang im Foyer geht es strack nach Hause, aber die Leistungen dieses Abends waren ganz so, dass das Publikum auch beim nächsten Mal wiederkommen wird.

Michael S. Zerban