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Aktuelle Aufführungen
GLORIA/LE GRAND TANGO/MAGNIFICAT
(Antonio Vivaldi, Astor Piazzolla, Martín Palmeri)
Besuch am
1. Oktober 2022
(Einmalige Aufführung)
Drei Jahre ist es her, dass Stephan Langenberg zu Gast beim Konzertchor Ratingen war. Noch heute kommt es einem vor, als habe man den Bandoneon-Spieler gerade erst erlebt, wie er an der Aufführung von Martín Palmeris Misa Tango mitwirkt. Bis zu seinem Auftritt muss sich das Publikum beim diesjährigen Herbstkonzert allerdings noch in Geduld üben. Er ist erst im dritten Teil vorgesehen.
Die Vorfreude auf das Konzert ist groß. Das ist bereits vor dem Foyer zu spüren. Im Vorraum des großen Saals summt es wie im Ameisenhaufen. Ein selten gewordenes Erlebnis. Es grenzt an eine logistische Meisterleistung, dass die meisten Besucher um 19 Uhr im Saal sind. Und Thomas Gabrisch, Künstlerischer Leiter des Konzertchors, vier Minuten später den Stab heben kann, um das Konzert zu beginnen.
Alejandro Saúl Martínez – Foto © Svenja Kupschus
Die Sinfonietta Ratingen ist seit ihrem letzten Auftritt um Jahre gealtert. Das ist das Orchester, das den Konzertchor begleitet und von Sabine Schneider individuell nach den Erfordernissen des Programms zusammengestellt wird. Wo bei den Streichern sonst eher der Nachwuchs Platz nimmt, sitzen heute durchweg ältere Damen und Herren. Als Konzertmeisterin agiert Irina Blank mit Ruhe und Umsicht. Auch Lebenserfahrung gehört in ein Orchester. Und das kann man beispielsweise bei Antonio Vivaldis Gloria in D-Dur hören, mit dem der Abend eröffnet wird. 1715 komponiert, entdeckt Gabrisch hier „erstaunliche Dissonanzen“, die der alten Musik eine erfreuliche Frische verleihen. Klingt der Chor in den ersten Minuten noch etwas dumpf, kann Sopranistin Sabine Schneider ihre Arie umso klarer perlen lassen, umschmeichelt vom Oboisten René Eljabi. Danach ist das Eis gebrochen. Angenehm erklingt die Stimme von Elvira Bill, die ihrem warm gefärbten Mezzosopran das nötige Volumen verleiht, ohne auch nur einen Moment das Gefühl zu erwecken, sie erreiche irgendwelche Grenzen.
Für das nächste Stück nimmt sich der Chor nicht nur zurück, sondern leistet sich auch einen besonderen Luxus. Eigens aus Barcelona eingeflogen – mit eigenem Sitz für das Cello, wie man hört – betritt Alejandro Saúl Martínez die Bühne. Zeit für Tango. Genauer für den Grand Tango, den Astor Piazzolla 1982 komponiert hat. Von Piazzolla ist ja die schöne Anekdote überliefert, die auch Gabrisch im Programmheft aufgreift. Der junge Mann reiste von Buenos Aires nach Paris, um bei Nadja Boulanger Komposition zu studieren. Allein, alles, was er ihr vorlegte, wurde von der Komponistin verworfen, bis sie ihn schließlich aufforderte, eine typische Musik aus seinem Heimatland zu spielen. Piazzolla genierte sich, spielte aber schließlich einen Tango. „Das ist Ihre Musik!“ soll Boulanger gesagt und damit den Grundstein für Piazzollas Weltkarriere gelegt haben. Von Le Grand Tango gibt es eine Version von Gautier Capuçon und Yuja Wang bei YouTube. Gegen das, was Martínez und die Sinfonietta Ratingen spielen, ist das allerdings eher langweilig. Es sind eben nicht immer nur die Namen, die vom Marketing hochgespült werden. Nach dem grandiosen Vortrag gönnt der Kubaner dem jubelnden Publikum eine Zugabe. Aus den Cinco Breves von Calixto Alvarez spielt er die Stücke Romance und Sonsoneo. Obgleich virtuos vorgetragen, erschließt sich der tiefere Sinn wohl eher dem Interpreten als dem Auditorium. Was die Begeisterung im Saal nicht bremsen kann.
Sabine Schneider und Elvira Bill – Foto © Svenja Kupschus
Nach der in Ratingen üblichen halbstündigen Pause, aus der netto dann vierzig Minuten werden, ohne dass das jemanden ernsthaft stört, eilt der Abend dem nächsten Höhepunkt entgegen. Nach dem großen Erfolg der Misa Tango fragte Gabrisch Palmeri, was man denn noch spielen könne. „Spiel doch etwas von mir“, antwortete Palmeri, und der Chorleiter nahm ihn beim Wort. 2016 komponierte Palmeri seine Version vom Magnificat. Für den Chor eine besondere Herausforderung. Wird doch hier der lateinische Text zu Tango- und Jazz-Klängen gesungen. Mit Bravour bewältigt der Chor seine Aufgabe. Der Komponist lässt sich zwischen südamerikanischen Klängen und Hollywood-Filmklängen aus, lässt süße Geigenklänge in die Melancholie des Bandoneons rauschen. Zwischendurch darf Sukyeon Kim am Flügel immer wieder für Akzente sorgen, die an amerikanische Bar-Musik erinnern. Ein großartiges Werk. Gabrisch lässt sich zu tänzerischen Schritten hinreißen, Schneider darf sich später für ihr „Magnificat anima mea Dominum“ feiern lassen. Wunderbar auch das Duo von Schneider und Bill „Deposuit potentes de sede et exaltavit humiles“ – Er stürzt die Mächtigen vom Thron und erhöht die Niedrigen. Wie aktuell ist das denn? Langenberg steht zwar weniger im Vordergrund als in der Misa Tango, unterstützt aber wunderbar den Gesamteindruck des Werkes.
Berichten die Choristen in der Pause noch von den Herausforderungen der Vorbereitung, greift nach dem überwältigenden Applaus wohlverdiente Euphorie um sich. In der kommenden Woche geht der Chor dann wieder auf Reisen, um auch in Spanien die Menschen für ein Magnificat zu begeistern, das man in Deutschland nur selten hört. In die Stadthalle lädt der Chor dann wieder am 23. Dezember zum städtischen Weihnachtskonzert ein.
Michael S. Zerban