O-Ton

Kulturmagazin mit Charakter

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Aktuelle Aufführungen

Neues aus der Kleinstadt

SECOND HAND
(Diverse Komponisten)

Besuch am
14. September 2021
(Einmalige Aufführung)

 

E-Mex-Ensemble im Kultur- und Medienzentrum, Pulheim

Christoph Maria Wagner ist Komponist, Arrangeur, Dirigent und Künstlerischer Leiter des E-Mex-Ensembles. Sein Arbeitsschwerpunkt liegt in Köln, aber er wohnt in Pulheim, einem Städtchen im Dreieck zwischen Köln, Frechen und Bergheim im Rhein-Erft-Kreis. Um sein neues Programm vorzustellen, lädt er dieses Mal in das Kultur- und Medienzentrum der Gemeinde ein, die erst seit 1981 über Stadtrechte verfügt. Es ist vermutlich schon ein besonderes Gefühl, wenn man in der Stadt, in der man lebt, auch auftritt. Und, so viel sei schon verraten, auch noch ein breitgefächertes Publikum kommt, was das Alter angeht, und das in ungewöhnlich großer Zahl, wenn man weiß, dass es um neue Musik geht. Da wird möglicherweise aus dem Wohnort Heimat.

Das Kultur- und Medienzentrum verfügt über einen genügend großen Konzert- und Theatersaal. Und die Akustik ist zumindest für diesen Anlass vollkommen ausreichend. Wagner greift zur Vorstellung seines neuen Programms auf bewährte Personen zurück. Zum einen sind das die Mitglieder des E-Mex-Ensembles, zum anderen hat er den Kabarettisten Martin Zingsheim eingeladen, die Moderation zu übernehmen. Was er noch nicht weiß: Sein Kollege André Parfenov hat sich spontan entschlossen, das Konzert zu besuchen.

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Ab 1950 vertraten die jungen Komponisten der Nachkriegszeit die Ansicht, dass die Spätromantik die Welt in einen Weltkrieg gestürzt habe und daher zu nichts mehr tauge. Künftige Musik müsse, so ihre Ansicht, ex nihilo, also aus dem Nichts geschaffen werden. Eine Ansicht, die, wie wir heute wissen, reichlich in die Irre führte und in ihren Auswirkungen bis heute bei der Bevölkerung für, sagen wir, erhebliche Vorbehalte gegenüber dieser neuen Musik sorgt. Die so genannte Avantgarde lernte damit zu leben, indem sie Musik für ihresgleichen komponierte. Die soziologische Figur der „Blase“ ist also keineswegs neu.

Aber auch Abweichler gab es immer wieder. Musiker, die auf bekanntes Tonmaterial zurückgriffen und es weiterentwickelten. Die waren bei den Avantgardisten verpönt, aber auch häufig erfolgreicher als sie. Diese Musik war Ausgangspunkt für die Überlegungen zum neuen Programm Second Hand. Und Wagner hat neben seinen eigenen Kompositionen interessante Beispiele ausgewählt.

Den Anfang macht ein Stück von George Antheil aus dem Jahr 1923. Geigerin Kalina Kolarova und Pianist Martin von der Heydt interpretieren furios Second Sonata for Violin with Accompaniment of Piano and Drums im Arrangement von Christoph Maria Wagner. Da geht es richtig zur Sache – und weckt vielleicht Erwartungen, die in die falsche Richtung gehen. Denn danach gibt es einen Bruch. 2001 komponierte Georg Friedrich Haas Tria ex uno für Ensemble auf der Grundlage eines Stücks aus dem 15. Jahrhundert von Josquin Desprez – Agnus Dei II aus der Missa L’homme armé super voces musicales – und da ist schnell Schluss mit Schwung und Elan, obwohl jetzt Flötistin Evelin Degen, Joachim Striepens an der Klarinette, Elio Herrero am Cello und die Perkussionisten Michael Pattmann und Norbert Krämer mit auf die Bühne kommen. Etwas abwechslungsreicher wird es wieder mit Claude Viviers Pulau dewata aus dem Jahr 1977 für variables Ensemble. Auch wenn es damit für einige ältere Damen zu bunt wird. „Das kann man sich doch nicht anhören“, skandieren sie – und sind nach der Pause verschwunden.

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Dabei steht der aufregendste Teil des Abends genau dann noch an. Vorerst aber gibt es eine Pause. Eine Pause ist in diesen Zeiten etwas Ungewöhnliches. Man hat sich das schon fast abgewöhnt. Aber die Pulheimer bemühen sich um größtmögliche Normalität. Lobenswert. Sogar eine Auswahl an gut gekühlten Flaschengetränken wird an der Bar im Foyer angeboten. Und es ist, wie es immer war. Die Menschen stehen in getrennten Grüppchen vor dem Gebäude und tauschen sich aus. Nach der Pause gibt es ein letztes Gespräch zwischen Zingsheim und Wagner. Der Kabarettist bewusst flapsig, muss man mögen, der Komponist geht darauf kaum ein, sondern glänzt mit Zusatzinformationen und ist um Einordnung bemüht. So darf geschmunzelt und auch mal gelacht werden, ohne auf seriöse Information verzichten zu müssen. Eine gelungene Mischung, die nicht zum ersten Mal wunderbar funktioniert.

Für die zweite Hälfte hat Wagner Re-Mixes – ein unglückliches Wort – aus eigener Feder auf das Programm gesetzt. Dazu komplettiert Andreas Roth an der Posaune das Orchester. Nach Auffassung des Komponisten ist der „rein materialorientierte Originalitätsgedanke“ überholt. Ganz bewusst verwendet er „vernutztes“ Ausgangsmaterial wie beispielsweise Billie Jean von Michael Jackson, das Jazz-Stück April Love oder O sole mio, um „komplexe und neuartige kompositorische Prozesse“ aufzuzeigen.  Nicht erst hier müssen die Musiker erhebliche Schwierigkeitsgrade zeigen, insbesondere Kolarova und von der Heydt werden im Laufe des Abends in ihrer Virtuosität gefordert, was beide unangestrengt wie auch das übrige Orchester bewältigen.

Das verbliebene Publikum ist sehr angetan und erklatscht sich eine Zugabe. Dann ist aber auch rasch Schluss. Und das hat wohl weniger mit dem Abend als mit dem Kulturentzug über so lange Zeit zu tun. Die Menschen sind von allzu langen Veranstaltungen entwöhnt. Da ist die Aufmerksamkeitsspanne nach zwei Stunden inzwischen beendet. Und wie sieht Komponist Parfenov den Abend? Der schwärmt noch am nächsten Tag von einer „wunderbaren, großartigen“ Aufführung. Und das war es ja dann wohl auch.

Michael S. Zerban