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Foto © Stefan Brion

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Ein vergessenes Werk ist wiedererstanden

TITON ET AURORE
(Jean-Joseph Cassanéa de Mondonville)

Gesehen am
19. Januar 2021
(Livestream)

 

Opéra Comique, Paris

Trotz aller Schwierigkeiten und Widerstände setzt die Opéra comique mit bewundernswerter Unverdrossenheit ihren Weg fort im Bestreben, die Kunst der Oper und die Verbindung zu ihrem Publikum aufrecht zu erhalten. Titon et Aurore ist nun schon die dritte Neu-Inszenierung, die sie direkt von der Bühne vor die Kamera bringt und im Internet ausstrahlt. Diesmal ein fast unbekanntes Werk.

Jean-Joseph Cassanéa de Mondonville war ein bekannter, aber heute sogar von Eingeweihten meist vergessener französischer Musiker des späten Barocks. Er war Komponist und Geigenvirtuose, was sich in den reichhaltigen und oft schwierigen Streicherpartituren widerspiegelt. Als Protegé der einflussreichen Madame de Pompadour macht Mondonville bald bei Hof Karriere. Seine zu seinen Lebzeiten erfolgreichste Oper Titon und Aurore aus dem Jahr 1753 ist als französisches „Argument“ in der Querelle des Bouffons gedacht, im berühmten Streit der französischen gegen die italienische Oper in Paris. Die Musik ist gefällig, manchmal paradoxerweise sogar von einer fast italienischen Galanterie, kann aber auch in wilde, dramatische Ausbrüche umschlagen, besonders bei den Streichern, und dann wieder in von Blockflöten untermalte anmutige Volkstümlichkeit.

Im Prolog dieser „heroische Pastorale“ haucht Prometheus mit dem den Göttern gestohlenen Feuer den starren Standbildern Leben ein und beschwört Amor herbei, um die neuen Geschöpfe Liebe zu lehren. Damit beginnt die Geschichte vom Hirten Titon und von Aurora, der Göttin der Morgenröte, die sich, sehr verliebt ineinander, ihrer Liebe erfreuen. Aber Äolus, der Windgott, und Pales, die Hirtengöttin, sind eifersüchtig, weil er Aurora liebt und sie Titon. Sie lassen letzteren von Adlern entführen. Aurora weint um ihren Geliebten und widersteht allen Verführungsversuchen des Windgottes. Der will daraufhin Titon töten und entfacht dazu einen fürchterlichen Sturm. Um Titus zu retten, gesteht Pales dem Hirten ihre Liebe und befreit ihn, erreicht aber nicht, ihn für sich zu gewinnen. Um sich ihrerseits nun zu rächen, beschließt sie, ihn frühzeitig altern und sterben zu lassen. Er stirbt in den Armen seiner Geliebten, die verspricht, ihm über den Tod hinweg treu zu bleiben und ihm zuliebe auf ihre Göttlichkeit zu verzichten. Da erscheint Amor als „deus ex machina“ und macht Titon nicht nur wieder lebendig, sondern sogar unsterblich.

Basil Twist wurde in Frankreich als Puppenspieler ausgebildet und ist daher über die Marionetten zur Opernregie gekommen. Zu dieser Inszenierung bemerkt er: „Ich habe meinem Bedürfnis Ausdruck verliehen, mein Universum auf allen Ebenen zu entfalten. Die Kunst der Fadenpuppen füllt den ganzen Bühnenraum aus und macht ihn zum Schauplatz: Es ist ein totales Schauspiel. Außerdem gehört es zu meiner Aufgabe, das Wesen der Materie zu enthüllen und ihr ein Bühnenleben zu geben, sei das die Textilie, das Licht oder feste Materie. Denkt an die Seide, sie ist großzügig, sie vergrößert und verlängert die Bewegungen, vermittelt Energie. Oder Schaumstoff, er ist widerstandsfähig, er reagiert, enthält Energie. Auf der Bühne kann ein Vorhang zur Marionette werden, es ist eine Kunst, ihn über die ganze Bühnenhöhe zu bewegen und ihm Leben einzuhauchen.“

Bewegung und Beweglichkeit werden somit die Bausteine dieser Inszenierung. Und Twist hat auch alles, was sich dazu gebrauchen lässt, zur Marionette gemacht und in seine sehr fantasievolle und märchenhafte Inszenierung eingebracht. Am anschaulichsten wird das vielleicht in der Szene, in der Äolus die Winde zum Sturm herbeibeschwört und sich Vorhänge, Leintücher, Gewänder, Flügel über den gesamten Bühnenraum von oben bis unten und von rechts bis links in gewaltigen, wehenden Bewegungen entfalten. In kleinerem Rahmen sind es Mobile mit kleinen glänzenden Scheiben, die ständige Begleiter Auroras sind.  Oder es sind die Statuen, die, durch Amors Gesang dazu ermuntert, sich in allen vorstellbaren und nicht vorstellbaren Stellungen dem Liebespiel hingeben. Dann wieder sind es drei durchsichtige geflügelte Luftgeister, die hoch über der Bühne ihr luftiges Ballett tanzen. Viel erdverbundener dagegen, wenn sie sich manchmal auch bis zu neunt übereinandertürmen, sind die verschiedenen Auftritte der Schafe, jeweils von einem Chormitglied diskret „geführt“ und bewegt – besonders witzig ihr Groteskballett im zweiten Akt.

Foto © Stefan Brion

Das einfache Bühnenbild unterstreicht das Märchenhafte der Inszenierung, in die die Beleuchtung und die Videos, neben einem Farben wechselnden Mond noch aurora-borealis-ähnliche, magische Lichtspiele hineinmalen. Die Kostüme sind einfach-ländlich für die Hirten, so auch Titon in Hemd, Kniehosen mit Stiefeln, einen breitkrempigen Hut auf dem Kopf und einen Hirtenstab in der Hand. In der Götter- oder Halbgötter-Hierarchie allerdings wird es fantasievoller und farbenfreudiger: Prometheus, wie ein alttestamentarischer Prophet, ist mit langem Bart und rotbrauner Kutte noch relativ nüchtern. Doch Amor, wie ein kleiner Rosenkavalier, schon schillernd in hellblau-seidenem Rokoko-Kostüm, Aurora von Kopf bis Fuß goldglänzend mit lauter glitzernden Ornaten, Äolus wie ein Zeus-Haupt, umgeben von wallenden Gewändern, Umhängen und Flügeln, alles in leuchtendem Weißblau. Und Pales mit Widderhörnern auf dem Kopf in weißem, langem Kleid, von zwei Widdern begleitet. Die Waldnymphen ihrer Herkunft entsprechend in spärlichem Efeugewand.

Den Reigen der Hauptdarsteller beginnt Renato Dolcini, der im Prolog mit sonorer Bassstimme als Prometheus mit den Göttern abrechnet: Dieux, ne connaissez-vous d’autre félicité qu’une éternelle indifférence? Ihm folgt als sein Komplize Julie Roset – mit glockenreinen Koloraturen und viel Charme ist sie ein verschmitzter Amor, wie in ihrer Antritts-Ariette Jeunes mortels, livrez vos âmes aux douceurs de la volupté! Den standhaften Titon verkörpert schauspielerisch und stimmlich souverän der Tenor Reinoud van Mechelen. Sowohl szenisch als vor allem aber auch musikalisch vielleicht eine der schönsten Momente der Oper ist die Szene im dritten Akt Que vois-je? Suis-je prêt à finir ma carrière?, in der Titon in einem ergreifenden Lamento sich des sehr schnell vorschreitenden Alterns bewusst wird, sich immer mühsamer über die Bühne schleppt, um schließlich mit langem, schlohweißem Bart in Auroras Arme zu sinken und zu sterben.  Die leidgeprüfte Aurora verkörpert mit viel Einfühlungsgabe und schönem, jugendlichem, fast vibrato-freiem Sopran Gwendoline Blondeel, besonders ergreifend in ihrem Gebet Dieu des amours, j’implore ton secours. Marc Mauillon wird seiner Rolle als stürmischer Äolus voll gerecht. Ganz besonders in der schon erwähnten turbulenten Sturm-Szene Vents furieux, sortez de la grotte profonde. Ebenso furienhaft wild und stürmisch ist Emanuelle de Negri als Pales, wie in der Rache-Arie Tu vas sentir les effets de ma rage! am Ende des zweiten Akts. Während eines großen Teils des zweiten Akts begleiten uns die Nymphen Virginie Thomas, Maud Gnidzaz und Juliette Perret mit ihrem reizvollen Gesang.

William Christie hat in seiner Vorrede zu dieser Opern-Übertragung auf das besondere Verhältnis hingewiesen, das ihn mit der Opéra Comique verbindet und vor allem die auf seine Initiative hin und unter seiner Leitung in diesem Hause 1987 stattgefundene, inzwischen legendär gewordene Aufführung von Lullys Athys in Erinnerung gerufen, die quasi den Anstoß zur immer noch anhaltenden Renaissance der französischen Barockoper gegeben hat. Hier hat er mit der ihm üblichen Mestria und einem ausgezeichneten Ensemble von Sängern und seinen ebenso ausgezeichneten Arts Florissants wieder ein vergessenes Werk aus der Taufe gehoben. Es sei ihm gedankt! Es ist sicherlich nicht eines der größten Werke des französischen Barocks, aber, wie er es ausdrückt, Mondonville war „un brillant satellite de Rameau“.

Alexander Jordis-Lohausen