O-Ton

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Foto © Elisa Haberer

Aktuelle Aufführungen

Theater-Epos als Oper

Le Soulier de Satin
(Marc-André Dalbavie)

Besuch am
29. Mai 2021
(Uraufführung am 21. Mai 2021)

 

Opéra National de Paris, Palais Garnier

Nach einer langen Corona-Durststrecke hat die Pariser Oper zur Wiedereröffnung die Uraufführung von Marc-André Dalbavies Oper Le Soulier de Satin – der Seidenschuh – nach Paul Claudels gleichnamigen Theaterstück erkoren.

Der Komponist ist Absolvent des Pariser Konservatoriums und ist von 1985 bis 1990 Mitarbeiter des von Pierre Boulez in Paris gegründeten Musikforschungsinstitut Ircam. 1992/93 verbringt er als Gast des Deutschen Akademischen Austauschdienstes in Berlin.

Schon Jahre, bevor er diese Vertonung begann, hatte der Komponist sich die Frage gestellt, ob sich nicht Paul Claudel insgeheim gewünscht hat, dass dieses – je nach Inszenierung acht- bis zwölfstündige – dichterische Werk einmal eine Oper würde. Es bietet sich ihm an. Sehr vom japanischen Theater Nô, von der chinesischen Oper, vom indonesischen Wayang Kuli, aber auch von Shakespeare beeinflusst, ist es vielfältig im Stil und in den Ausdrucksformen. Komik und Tragik wechseln sich ab. Dalbavie meint, es müsste so lang sein, damit es eine gewisse Einheit erreiche. Es fasziniert ihn, dass „wir gegenüber völlig erfundenen Personen nicht mehr Zuschauer sind, sondern mit Szenen konfrontiert werden, in denen wir zwischen Wirklichkeit und Dichtung hin und her schwanken; ein wenig wie bei Pirandello oder wie in Ariadne auf Naxos von Strauss oder bei Hofmannsthal“. Einem Rat Pierre Boulez‘ folgend interessiert er sich dann näher für das Werk. Und mit seiner Textdichterin Raphaèle Fleury reduziert er es immerhin auf sechs Stunden. Ob es nun wirklich ein ideales Operntextbuch geworden ist, ist ein andere Frage. Denn letztlich ist es immer noch ein vorwiegend literarisches Werk geblieben, man könnte sagen ein Theaterstück mit Musik. Und es ist ja nicht zufällig, dass die dichterisch schönsten Passagen, wie der „Doppelte Schatten“, ohne Musikbegleitung und gesprochen deklamiert, und viele der Duette von einem Darsteller gesungen, aber vom anderen gesprochen werden. Eigentlich kann man der Oper nur folgen, wenn man regelmäßig den Text auf der Spruchtafel über der Bühne liest – nach sechs Stunden sind dann die Zervikalwirbel etwas strapaziert.

Es ist die sehr komplizierte Geschichte einer verbotenen Leidenschaft und der Erlösung des Helden. Sie spielt im Spanien des 16. Jahrhunderts. Sehr vereinfacht ergibt das:

Erster Tag. Don Rodrigue und Doña Prouhèze, die mit Don Pélage verheiratet ist, verlieben sich hoffnungslos ineinander.  Doña Prouhèze reist nach Barcelona, wo sie heimlich Don Rodrigue zu treffen hofft. Auch Don Camille, ein leichtfertiger Schützenjäger, stellt Doña Prouhèze nach und versucht, sie zu überreden, mit ihm nach Mogador zu kommen, dessen Gouverneur er ist. Don Rodrigue wird zum Vize-König der südamerikanischen Kolonien ernannt. Doña Prouhèze ist entschlossen, ihm zu folgen, betet zur heiligen Jungfrau und opfert ihr einen ihrer Seidenschuhe, damit sie fortan nur hinkend sündige möge. Doch Don Rodrigue wird bei einem nächtlichen Überfall schwer verwundet und ins Haus seiner Mutter gebracht. Die beiden Liebenden treffen einander nicht.

Am zweiten Tag erinnert Don Pélage seine Gemahlin an ihre Verpflichtungen ihm gegenüber und bietet ihr, die Afrika sehr liebt, an, allein das Kommando der Zitadelle von Mogador zu übernehmen, in der Don Camille ein verräterisches Spiel zu spielen scheint. Sie nimmt das Angebot an. Kaum ist Don Rodrigue wiederhergestellt, als er mit einem Brief des Königs nach Mogador geschickt wird, um von dort weiter nach Südamerika zu reisen. Doch vor Mogador lässt Doña Prouhèze das Schiff beschießen und versenken. Als Don Rodrigue als Überlebender dennoch die Zitadelle erreicht, empfängt Prouhèze ihn nicht, sondern lässt ihn von Don Camille sehr erniedrigend abweisen. Der Mond wirft ihrer beiden Schatten und betrachtet die im Schmerz getrennten Liebenden, sie in Mogador, er auf einem Schiff nach Amerika.  Doña Musique, eine Nichte Don Pélages, die immer davon geträumt hat, den König von Neapel zu heiraten, trifft ihn auch tatsächlich in Sizilien, und es wird eine glückliche Liebe.

Der dritte Tag. Doña Musique, schwanger mit dem künftigen Don Juan de Austria, betet, umgeben von vier Heiligen, in einer Kirche in Prag, wohin sie ihren Gemahl begleitet hat, dass aus dem vorherrschenden Chaos und Leiden der Völker Harmonie geboren werde. Don Rodrigue in Südamerika beschäftigt sich vornehmlich mit dem Projekt, Schiffe über den Isthmus von Panama zu befördern. Doña Isabel, die seine Geliebte geworden ist, ohne ihn zu lieben, intrigiert, ihn zu vernichten, damit ihr Mann Don Ramire die Macht übernehmen kann.  Doña Prouhèze, inzwischen Witwe, heiratet Don Camille. Sie schreibt aber in einem Moment großer Verzweiflung einen Brief an Rodrigue, sie zu retten. Doch dieser Brief kommt erst nach zehn Jahren an.  Doña Isabel benutzt ihn, um Don Rodrique loszuwerden, der auch sofort nach Mogador aufbricht.  Doña Prouhèze erscheint im Traum ihr Schutzengel, der ihr erklärt, dass ihre Sünde dazu dienen kann, Rodrigue zu läutern, wenn sie zu einem Stern würde, der ihn zur Erlösung leitet. In einem langen Liebesduett versucht sie, ihn zu überzeugen, dass nur ihr Tod ihn retten kann. Sie kommt nicht mit ihm, aber vertraut ihm ihr und Don Camilles Kind Doña Sept-Epées an, bevor sie nach Mogador zurückkehrt, um sich und die Zitadelle in die Luft zu sprengen.

Vierter Tag. Zehn Jahre nach Doña Prouhèzes Tod. Don Rodrigue ist alt geworden, hat im Krieg in den Philippinen ein Bein verloren und überlebt fast wie ein Bettler, indem er kleine Heiligenbilder für Matrosen malt. In seinem Elend und seiner Erniedrigung erlebt er eine Art von Befreiung. Seine Adoptivtochter Doña Sept-Epées liebt und bewundert ihn über alles, aber verlässt dennoch den alten Mann, weil sie sich in Don Juan de Austria verliebt hat. Von ihm auf sein Schiff eingeladen, will sie voller Begeisterung mit ihm in die Schlacht von Lepanto segeln. Eine alte Nonne nimmt Don Rodrigue in ihrem Kloster auf.

Musikalisch sind die Einflüsse multipel. Da es sich teilweise um eine Weltreise handelt, hat Dalbavie, zum Unterschied von Stockhausens Michaels Weltreise in seiner Oper Donnerstag aus Licht, hier nicht gezögert, auch „lokal-exotische“ Instrumente in sein Orchester aufzunehmen. „Da gibt es ein cymbalum, ein Instrument, das man im Mittelalter in Frankreich spielte. Man nannte es Psalterion. Außer in Ungarn ist es dann aus der europäischen symphonischen Musik verschwunden, aber man findet es noch im Vorderen Orient als Santur und auch in China als Yangyin. Es spielt auch in Boulez‘ Musik eine Rolle, und ist als solches der Modernität verbunden. Auch steel drums, wie sie in der Karibik üblich sind, habe ich verwendet, was auf Lateinamerika und Panama verweist. Dann sind da chinesische Klangschalen, viele Gongs and Bonangs, die an das indonesische Gamelan erinnern. Und schließlich ist noch die Barock-Gitarre, die ich der symphonischen Sonorität eingefügt habe. All diese Instrumente erklingen nicht an bestimmten Stellen, um eine bestimmte theatralische Situation zu illustrieren – sie sind Teil des Orchesters und sind ständig gegenwärtig.“

Dabei bleibt sein Orchester im traditionellen Sinne symphonisch, aber er benützt auch elektronische Elemente. Er praktiziert das morphing, eine Ton-Transformation und lange Resonanzen.

Was die musikalische Syntax anbelangt, erklärt der Komponist selbst: „Le Soulier de Satin ist eine Oper, welche die Metatonalität erforscht.“ Diese Metatonalität wurde 1956 von seinem Lehrer Claude Ballif erfunden. Sie ist „die Synthese des tonalen und des polymodalen Systems, das sowohl die Tonalität als auch die Atonalität überwinden kann.“ Ihr liegt eine Tonleiter von elf Tönen zu Grunde.

Soweit die Theorie. In der Praxis entdeckt man eine Musik ganz ohne Melodien, in der sich meist gegen einen sanften, langausgedehnten musikalischen Hintergrund der Streicher, die Bläser, aber auch die verschiedensten anderen Instrumente, wie das schon erwähnte „exotische“ Schlagzeug Arsenal in oft gewaltigen Crescendo-Ausbrüchen entlädt, die die emotionalen Stimmungen der Sänger und Sängerinnen untermalen sollen. Man erkennt das Bestreben des Komponisten, die Klangfarben jedes dieser Instrumente voll auszuschöpfen. Es ist eine manchmal erschreckende, manchmal erstaunliche, fast immer sehr klangvolle Musik. Und sie wirkt nie aggressiv. Man kann sich ihrer Tonfülle hingeben, dann vergehen die sechs Stunden schneller. Oder man kann der Oper konzentriert folgen, dann ist es eine anstrengende Übung zwischen Text und Klang.

Die Bühnenbilder des Emmanuel Clolus sind hauptsächlich riesige Reproduktionen spanischer oder italienischer Renaissance-Gemälde, die sich von Szene zu Szene verschieben. Die prachtvollen, höfischen Kostüme von Raoul Fernandez sind der Mode Spaniens des 16. Jahrhunderts nachempfunden. Die Personenregie Stanislas Nordeys ist formell statisch. In dieser Statik fällt Loïc Touzés Choreografie des eindrucksvollen Ausdruckstanzes der Noire Jobarbara auf. Da das zu Grunde liegende Theaterstück auf die Hälfte zusammengestrichen wurde und das Bühnenbild nicht sehr aussagefreudig ist, treten regelmäßig zwei Zeremonienmeister auf, die jeweils die Folge der Handlung und die Beschaffenheit der Szenen erklären.

Marc-André Dalbavie hat für die Uraufführung seiner Oper ein ausgezeichnetes vielköpfiges Ensemble versammelt. Für die beiden Hauptdarsteller ist es ein dramatischer und stimmlicher Marathon, den sie erfolgreich durchlaufen. Eva-Maud Hubeaux ist als kraftvoller, etwas herber, schneidender Mezzosopran nicht die sanft Liebende, sondern eher der hoheitsvolle, unerbittliche Großinquisitor, unerbittlich sich selbst und ihrem Liebhaber gegenüber. Stimmlich ist sie besonders gefordert, weil die Partitur sie ständig an die untersten Grenzen ihres Registers treibt. Der schön timbrierte Bariton Luca Pisaroni sinkt glaubhaft im Laufe der Handlung vom feurigen, leidenschaftlichen Liebhaber zum apathischen, alten Mann herab. Jean-Sébastien Bou erfreut mit großem Können in der Rolle des verschlagenen, zu jedem Verrat fähigen Don Camille. Max Emanuel Cenčić, der hier zum ersten Mal in der Pariser Oper auftritt, erfüllt vollends die Erwartungen als Schutzengel und als die Heiligen Jakob und Adlibitum. Yann Beuron überzeugt als großmütiger Don Pelage. Fünf verschiedene Personen verkörpert nacheinander schauspielerisch und stimmlich gekonnt Marc Labonnette. Die Rolle der Doña Musique ist die einzige, in der man hin und wieder Ansätze einer melodischen Musik zu erkennen glaubt, einschließlich einer Reihe sehr schön von Vannina Santoni gesungener Melismen. Camille Pouls quirlige Doña Sept-Epées bringt ein wenig Leben in das triste Geschehen des vierten Tages. Als Vize-König von Neapel präsentiert sich mit strahlender Tenorstimme Julian Dran. Beatrice Uria-Monzon ist ebenso überzeugend sowohl Doña Isabel als auch Doña Honoria. Anerkennend seien noch genannt die Sprechrollen der Mélody Pini als La Noire Jobarbara und Yuming Hey als Chinois Isidor. Last, but not least erkennt man die unnachahmliche Stimme Fanny Ardants in der aufgezeichnet-deklamierten Doppel-Schatten-Szene.

Marc-André Dalbavi dirigiert in dieser, seiner eigenen Partitur das Orchester der Opéra National de Paris.

Es war zum neuen Auftakt der Pariser Oper ein anregendes und aufregendes Schauspiel mit Musik. Das Corona-bedingt etwas spärliche Publikum ist ehrlich begeistert.

Alexander Jordis-Lohausen