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LE ROSSIGNOL/LES MAMELLES DE TIRÉSIAS
(Igor Strawinsky, Francis Poulenc)

Besuch am
10. März 2023
(Premiere)

 

Théâtre des Champs Elysées, Paris

Le Rossignol, Strawinskys erste Oper, erzählt das Andersen-Märchen vom Kaiser von China, der eine Nachtigall und ihren Gesang verbannt, weil er ganz gefesselt ist vom Gesang einer künstlichen Nachtigall. Erst mit dem Tod vor Augen ruft er die echte Nachtigall zurück und ihr Gesang bezwingt sogar den Tod. Strawinsky komponiert dieses Werk mit mehreren Unterbrechungen zwischen 1908 und 1914. Durch diese lange Zeit der Unterbrechungen ist das Werk verschiedenen Einflüssen ausgesetzt. Wenn es am Anfang noch die seines Lehrers Rimski-Korsakow sind, so glaubt man später manchmal Ravel oder Debussy herauszuhören oder auch die Einflüsse asiatischer Musik, die die französischen Komponisten während der Pariser Weltausstellungen von 1889 und 1900 kennengelernt hatten, oder es ist Petruschka, der anklingt. Trotz seines Erfolges bei seiner Uraufführung in Paris, tritt das Werk erst nach dem ersten Weltkrieg seine eigentliche weltweite Karriere an.

Dreißig Jahre nach der Strawinsky-Oper vollendet Francis Poulenc seine erste Oper, der eine gleichnamige surrealistische Farce von Guillaume Apollinaire von 1917 zu Grunde liegt: Les Mamelles de Tirésias, auf Deutsch die Brüste des Tiresias. Die Oper spielt im tropischen Sansibar und erzählt, vage inspiriert von alt-griechischen Mythos des Sehers Theresias, die fantastische Geschichte der Madame Therèse, die ihr Frau-Sein entschieden verwirft, um „Soldat, Abgeordneter, Rechtsanwalt oder Senator“ zu werden, vor allem aber verwirft sie die Idee der fortpflanzlichen Verpflichtungen und entledigt sich ihrer Brüste. Ihrem Ehemann zieht sie Frauenkleider an und lässt ihn gefesselt zurück, worauf ihn ein Gendarm sexuell belästigen will. Wieder Herr seiner selbst verkündet der Ehemann, Sansibar brauche Nachwuchs und Männer müssten Kinder ohne Frauen zeugen. Das Experiment gelingt und er zeugt 40.049 Babys an einem Tag. Madame Therèse wird schließlich als Kartenlegerin wieder zur Frau, das Ehepaar versöhnt sich und tanzt einen langsamen Walzer, während der Chor „Hört, o ihr Franzosen, auf die Lehre des Krieges, und kriegt Kinder, ihr, die ihr kaum noch welche kriegt“ singt. Es wird bei seiner Uraufführung teils begeistert gefeiert, teils voller Empörung abgelehnt. „Das ergibt sehr erregte Aufführungen!“ schreibt Poulenc an seinen Freund Darius Milhaud. Der Regisseur Olivier Py nennt das Werk ein „revolutionäres UFO in der Opern- und Literaturgeschichte“.

In einem Zeitalter des virulenten Neo-Feminismus, hitziger Trans-Gender-Diskussionen, fanatischer Debatten über künstliche Befruchtung, über die Rolle der Journalisten und der Medien oder Überlegungen, wie die Technologie Menschen oder andere Lebewesen ersetzen kann, sind Opern, die diese Themen zum Inhalt haben, für einen modernen Regisseur ein gefundenes Fressen. Auch Py lässt sich das natürlich nicht nehmen.

Doch wenn man zwei Kurzopern in einer Aufführung auf die Bühne bringt, stellt sich jedes Mal die Frage, welche passt zu welcher und aus welchen Gründen. Regisseur Py hat sich im Einvernehmen mit dem Dirigenten für diese beiden Opern entschieden. Denn obwohl in der Form verschieden, sind die beiden Werke aus seiner Sicht miteinander verbunden, weil das erste eine Betrachtung über den Tod ist, und das zweite eine Betrachtung über jene „eigenartige Form des Todes, die man Sexualität nennt“. So schleicht in beiden Opern auch der Tod überall mit eindrucksvoller Maske umher. Und so verquickt Py in seiner Regie das philosophische Märchen Andersens mit der Persiflage Apollinaires auf solche Weise, dass sie damit zwei Seiten derselben Münze werden.

Dass diese Sicht dennoch etwas bei den Haaren herbeigezogen ist, zeigt dann leider die Regie von Le Rossignol. Diese erste Oper spielt hier hinter den Kulissen eines Theaters, auf dessen Bühne vorne eine Aufführung der zweiten Oper abläuft, die man aber weder sieht noch hört.  Um in beiden Fällen etwa den gleichen Regie-Stil zu wahren, inszeniert Py Le Rossignol denn auch als eine Art Opéra bouffe, der Fischer wird zum Journalisten, der hinter jedem Weibsbild her schnüffelt, der Kaiser zu einem etwas verwirrten, verwahrlosten alten Trottel, der Kammerherr zum Theaterdirektor und die Nachtigall, ganz in Rot, zu einem Music Hall Star, während der künstliche Vogel aus einem Laptop singt. All der Charme und die Poesie von Andersens Märchen, so wie sie auch Strawinsky in der Musik nachempfunden hat, gehen hier verloren. Die Beleuchtung und damit die Atmosphäre ist trist.  Kurz, so sehr sie musikalisch ein reines Vergnügen bleibt, so sehr wird die Oper szenisch hier der Idee der Gemeinsamkeit geopfert.

Ganz anders im Falle von Poulencs Les Mamelles de Tirésias. Hier sieht man die Bühne von vorne und alles passt zusammen. Alles ist hell und grell farbig. Es ist amüsantes, vielfältiges Theater auf dem Theater, mit einer Music-Hall-Bühne, genannt Le Zanzibar, was unter anderem durch eine altbekannte, bis vor ein paar Jahren noch bestehende Homosexuellen-Bar in Cannes inspiriert ist, in der sowohl Apollinaire als auch Poulenc zu verschiedenen Zeiten verkehrt haben sollen. Mit großem klanglichem und stimmlichem Reichtum geht Poulenc bei der Vertonung des Werkes auf die Finessen dieser surrealistischen Groteske ein.    Text, Tanz, Gesang und Musik verbreiten schwungvolle Erotik in allen Schattierungen. Ein gut ausgeklügelter und abgespulter Klamauk könnte man sagen. Und dennoch mehr, denn dieser 1917 geschriebene Text lässt immer wieder direkt oder indirekt in erstaunenswerter Weise anklingen, was heute hundert Jahre später hitzige Debatten hervorruft und militante politische Bewegungen schafft.

Musikalisch führt Sabine Devieilhe den Reigen an. Sie verkörpert in beiden Opern die Titelrolle und singt sie mit ihrem glockenreinen Koloratur-Sopran. Ihre Virtuosität kommt besonders in Strawinskys Oper und hier vor allem im Nachtigallengesang Ah, joie, emplis mon coeur im zweiten Akt auf bewundernswerte Weise zur Geltung. Den Kaiser wie auch den Ehemann singt und spielt mit allen Nuancen und Finessen, hier tragisch, dort grotesk-komisch, mit sonorem Bariton Jean-Sébastien Bou wie in seiner feierlichen Erklärung vor dem Volke Sansibars Fameux représentant de toute autorité.

Cyrille Dubois‘ Tenor erfreut stimmlich sehr in der schönen, lyrischen Eingangsarie des Fischers Porté au vent, tombant au loin, aber atmosphärisch geht durch die Regie hier viel verloren. Als echter Journalist ist er daher in der zweiten Oper überzeugender. Als Theaterdirektor fungiert gekonnt Laurent Naouri und setzt im Prolog von Poulencs Oper eindeutige Akzente: Public, … je vous apporte une pièce dont le but est de réformer les mœurs. Victor Sicard ist der Gendarm, Lucile Richardot mit tiefem Mezzosopran der immer schleichende Tod und Chantal Santon Jeffery das Küchenmädchen und eine elegante Dame. Francesco Salvadori und Rodolphe Briand singen im Zwei-Gesang die japanischen Gesandten.

Der kräftige von Mathieu gut einstudierte Chor Ensemble Aedes ist in den Logen der Music Hall untergebracht. François-Xavier Roth, übrigens seit 2015 Generalmusikdirektor in Köln, dirigiert hier mit Brio die Solisten, Chor und das von ihm gegründete Orchester Les Siècles, das die von ihm aufzuführenden Werke jeweils mit den ihrer Zeit entsprechenden Instrumenten spielt.

Das Publikum spendet aufrichtig begeisterten Beifall, sofern es nicht schon nach der ersten Oper nach Hause gegangen ist.

Das Théâtre des Champs Elysées schließt damit seinen Zyklus der drei von Olivier Py inszenierten Literaturopern von Francis Poulenc ab, die heroisch-kargen Dialogues des Carmelites nach Georges Bernanos, die völlig neurotische Voix Humaine nach Jean Cocteau und nun Guillaume Apollinaires surrealistische Mamelles de Tirésias.

Alexander Jordis-Lohausen