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Charles Gounod gilt als der führende Komponist des drame lyrique in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts in Frankreich. Seine Musik zeichnet sich vor allem durch ihren Melodienreichtum und ihre feinfühlige Lyrik aus. In Roméo et Juliette, nach Faust seine bekannteste Oper, sind es gleich vier Liebesduette, die dieser Vorliebe des Komponisten für lyrische Intimität Ausdruck verleihen. Das erste noch etwas formelle Madrigal-Duett des Kennenlernens in der Ballszene. Das zweite, die Balkonszene, in der die Gefühle der beiden Liebenden sich voll entfalten. Das dritte, sinnliche Duett der Liebesnacht und schließlich das der Sterbenden. Denn die Oper folgt der seit dem 18. Jahrhundert üblichen Version, in der Juliette aus ihrem künstlichen Todesschlaf erwacht, bevor Romeo stirbt, um sich dann endgültig den Tod zu geben. Die Uraufführung der Oper im Jahre 1867 wurde Gounods größter Triumph.
Für die Inszenierung dieser Oper übernimmt der Regisseur Eric Ruf die seiner Theateraufführung des Shakespeare-Dramas in der Comédie Française 2015 und bearbeitet sie für die Opernversion. Die Handlung ist ins Palermo der 1950-er Jahre verlegt. Die Kulissen sind von alten Palästen kopierte, verschiebbare, riesige, hell ockerfarbene Fassadenteile. Juliette, man kann nur hoffen, dass sie schwindelfrei ist, lehnt nicht an einem Balkongeländer, sondern steht vier Meter hoch auf einem schmalen, baufälligen Mauersims. Für die Gruft-Szene am Schluss der Oper hat sich der Regisseur von den Katakomben in Palermo inspirieren lassen, in denen – höchst makaber – ausgetrocknete Mumien, in barocke Pracht-Gewänder gehüllt, an die Wände gelehnt sind. Die Kostüme von Christian Lacroix sind hübsche, bunte Cocktailkleider für die Damen und dunkle Anzüge für die Herren. Bertrand Coudercs Beleuchtung ist südlich-leuchtend. All das ergibt, gepaart mit Glysleïn Lefevers lebendiger Choreografie, recht anschauliche und erfreuliche Bilder.
Es gibt wohl kaum eine katastrophalere Situation für einen Operndirektor, als dass am Vortag der Première der Hauptdarsteller und am Tage der Premiere die Hauptdarstellerin Corona-positiv getestet werden. Dann noch Ersatz zu finden und die Premiere erfolgreich über die Bühne laufen zu lassen, ist eine Wette mit der Zeit, eine Marathonleistung der Organisation und ein fabelhaftes Zusammenwirken aller Beteiligten. Hier ist so etwas gelungen. Auch das gehört zur Magie der Opéra Comique!
Foto © Stéfan Brion
Perrine Madoeuf, die erst am Tag der Premiere die Rolle übernehmen musste, spielt die Juliette mit jugendlicher Frische. Stimmlich ist sie anfänglich noch etwas unsicher, singt sich aber im Laufe des Abends gut in ihre Rolle hinein. Und so ist auch ihre dramatische Arie Dieu! Quel frisson court dans mes veines? im vierten Akt, sehr beeindruckend, ja, fast unheimlich. Pene Pati, der am Vorabend noch als Alfredo in La Traviata in Amsterdam auf der Bühne stand, ist vom ersten Moment an schauspielerisch und vor allem stimmlich voll in der Rolle. Seine Arie Amour! Amour!, in der seine kraftvolle Bruststimme mühelos in ein Kopfstimmen-fortissimo übergeht, trägt ihm begeisterten Szenenapplaus ein. Den hilfreichen Frère Laurent interpretiert mit tiefem Bass Patrick Bolleire. Der Komponist hat ihm eine denkwürdige Arie gewidmet: Buvez donc ce breuvage. Philippe-Nicolas Martin als Mercutio erfreut gleich zu Beginn der Oper mit der Ballade von Mab, der Lügenkönigin, Mab, la reine des mensonges présides aux songes. Stimmlich sowie schauspielerisch bietet uns Adele Charvet als Roméos Page Stéphano ein erfreulich heiteres Intermezzo mit Depuis hier je cherche en vain mon maître! Keineswegs heiter, eher gehässig und herausfordernd, aber mit schöner, schneidender Tenorstimme ist Yu Shaos Tybald. Jérôme Boutillier ist der würdige Graf Capulet und Marie Lenormand die wachsame Gertrude. Alle übrigen Darsteller fügen sich wirksam in das Ensemble ein. Der Chor Accentus und das Orchester der Opéra de Rouen Normandie stehen unter der bewährten Leitung von Laurent Campellone, der sowohl die lyrischen, wie auch die wuchtig-dramatischen Szenen auszuleuchten vermag.
Le malheur des uns fait le bonheur des autres! sagt man in Paris. Das Unglück der einen macht das Glück der anderen. Selten sind zwei Hauptdarsteller in der Opéra Comique so umjubelt worden, wie an diesem Abend Pene Pati und Perrine Madoeuf. Und selten haben zwei Sänger so offensichtlich auf der Bühne ihre Freude darüber zum Ausdruck gebracht, diese Aufführung im allerletzten Moment gerettet zu haben. In einer euphorischen Atmosphäre gibt es langen, nicht enden wollenden Applaus für die beiden Protagonisten, aber auch für das gesamte Ensemble. Es zeigt sich dabei, wie sehr in dieser unsicheren Zeit das Publikum seine echte Freude zum Ausdruck zu bringen weiß, wenn eine Vorstellung nicht abgesagt werden muss.
Alexander Jordis-Lohausen