O-Ton

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Foto © Stefan Brion

Aktuelle Aufführungen

Lakmé – anti-kolonialistisch

LAKMÉ
(Léo Delibes)

Besuch am
28. September 2022
(Premiere)

 

Opéra Comique, Paris

Léo Delibes, Schüler von Adolphe Adam, gehört zwar zu den romantischen Opern-Komponisten Frankreichs, doch sind die meisten seiner Werke näher der Operette und der Ballettmusik. So ist er auch heute eher durch seine Ballette Coppélia und Sylvia bekannt geblieben. Seine einzige vollendete Oper, die 1883 zu einem sofortigen und anhaltenden Welterfolg wird, ist Lakmé. Das Textbuch dieser Oper, wurde – wie übrigens auch Puccinis Madama Butterfly – von Pierre Lotis Roman Le Mariage de Loti inspiriert. Hier ist es in veränderter Form die Geschichte der schönen Brahmanen-Tochter Lakmé, die aus Liebe zu einem englischen Kolonial-Offizier dem Leben entsagt.

Natürlich will Delibes uns nicht tatsächlich Indien vorführen. Aber er nimmt es zum Vorwand, eine musikalische Sprache zu entwickeln, um uns in eine exotische Welt zu versetzen – ohne jedoch seinem Orchester irgendwelche entsprechend fremden Instrumente hinzuzufügen. Hingegen spielt seine Orchestration hier eine wesentliche Rolle. Zweifellos ist seine Partitur von Georges Bizet und vor allem von dessen Perlenfischern, aber auch von Carmen beeinflusst. Dennoch hat Delibes mit dieser harmonisch wie auch melodisch sehr reichhaltigen tragédie lyrique, eine sehr persönliche, magische musikalische Atmosphäre geschaffen, die überdies der im späten 19. Jahrhundert vorherrschenden Faszination für Indien entgegenkommt.

In der britisch-französischen Kolonialkonkurrenz der damaligen Zeit enthält die Oper auch eine politische Anspielung. Denn ganz bewusst verwendet Komponist in seinem Werk, zwei verschiedene Stile: der etwas operettenhafte „Opéra-comique-Stil“ für die Rollen der Engländer, einen ernsten und lyrischen hingegen für die Rollen der Inder. Nur die Rolle des englischen Offiziers Gérald darf auch ins Lyrische hinübergleiten.

Laurent Pelly und Agathe Melinand, seine Mitarbeiterin, die für die Bearbeitung der Dialoge verantwortlich ist, haben diesen Kontrast zum Vorwand genommen, um der Inszenierung einen modernen antikolonialistischen Akzent zu geben.

Foto © Stefan Brion

Pelly fühlt sich in der exotischen Geschichte nicht an Indien gebunden: Zwar schildert er eine arme, von Ritualen und hinduistischen Göttern gelenkte, einheimische Bevölkerung, geführt vom Brahmanen Nilakantha, der gegen die britische Kolonialmacht kämpft.  Aber diese Welt sieht er, nach eigener Aussage, eher wie in einem Märchen – weiß, wolkenleicht, umgeben von einem poetischen, pastellfarbenen Dekor, das seine Wurzeln im Theater Nô in Japan sucht – „eine Darstellung fast ganz flach und naiv, wie eine geträumte Welt. Die Welt des Theaters.“ In diese zart geträumte Welt brechen dann plötzlich die englischen Kolonisatoren ein – „lautstark, störend, vulgär“, wie Mélinand im Programmheft erklärt. Sie überlässt ihnen daher auch alle gesprochenen Dialoge, „um ihre touristischen, rassistischen, reaktionären Seiten“ herauszustreichen und „um das völlig Wirklichkeitsfremde dieser kolonisierenden Touristen aufzuzeigen“. So wirken auf der Bühne die Engländer und vor allem die Engländerinnen in ihren grauen Tweed-Kostümen und kecken Hütchen, durch eine entsprechende Personen-Regie wie groteske Karikaturen.

Musikalisch ist die Aufführung ein voller Erfolg. Vor acht Jahren hat sich Sabine Devieilhe in derselben schwierigen Koloratur-Rolle der Lakmé auf derselben Bühne dem Pariser Opernpublikum vorgestellt, und es war eine triumphale Offenbarung. Seitdem ist ihre Stimme reifer geworden, aber immer noch spielt sie auf ihrer Glockenstimme, wie eine Virtuosin unglaublich nuanciert auf ihrem Instrument. Sie singt meisterhaft die komplexe Rolle der Lakmé, und ihre berühmte Koloratur-„Glockenarie“ Où va la jeune hindou, fille des parias im zweiten Akt ist ein wahres Erlebnis. Die Arie wird noch reizvoller durch ein begleitendes Schattenspiel auf Leinwand, in der Art des indonesischen Wayang Kulit.

Rafaël Pichon, der Dirigent der heutigen Aufführung, hatte darauf bestanden, dass nicht nur Sabine Devieilhe wieder die Lakmé singt, sondern Frédéric Antoun, wie vor acht Jahren, auch wieder den von der exotischen Schönheit verzauberten Gérald. Sein lyrischer Tenor kommt besonders zur Geltung in der Kantilene im dritten Akt Lakmé! Lakmé! Ah! Viens, dans la forêt profonde. Sehr eindrucksvoll meistert Stephane Degout die komplexe Rolle des von Vergeltung besessenen Brahmanen Nilakantha. Sein lyrisches mezza voce wird von einem warmen Timbre getragen wie in Lakmé, ton doux regard se voile im zweiten Akt, doch kann seine Stimme in den dramatischen Momenten auch klangvoll donnernd werden, wie in der Schlussszene der Oper Elle a l’éternelle vie. Ambroisine Brés Mezzosopran ist etwas verhalten, aber er ist schön abgestimmt auf Sabine Devieilhes Sopran in dem stimmungsvollen Blumenduett Lakmès und ihrer Dienerin Mallika Sous le dôme épais où le blanc jasmin im ersten Akt. Alle übrigen Solisten, und besonders Philippe Esthèphe als der englische Offizier Frédéric, François Rougier als der Diener Hadji, sowie Elisabeth Boudreault, Marielou Jacquard und Mireille Delunsch als das Trio der Engländerinnen Ellen, Rose und Miss Benson fügen sich bestens in das ausgezeichnete Ensemble ein.

Der gut einstudierte Chor Pygmalion spielt immer wieder eine wichtige Rolle in der Oper.

Rafaël Pichon dirigiert Solisten, Chor und das klangfarbenreiche Orchester Pygmalion subtil und mit Umsicht.

Der Applaus für die Ausführenden ertönt begeistert. Nur bedauerlich, dass einige Übereifrige im sonst so Opern gewohnten Publikum der Opéra Comique mitten in der Glocken-Arie glauben, applaudieren zu müssen, weil sie denken, sie sei zu Ende.

Die Oper wird übrigens direkt am 6. Oktober um 20 Uhr auf Arte Concert, und am 22. Oktober um 20 Uhr auf France Musique übertragen.

Alexander Jordis-Lohausen