O-Ton

Kulturmagazin mit Charakter

Foto © Vincent Pontet

Aktuelle Aufführungen

Sehr sehenswert

EUGEN ONEGIN
(Pjotr Iljitsch Tschaikowsky)

Besuch am
10. November 2021
(Premiere)

 

Théâtre des Champs Élysées, Paris

Nach seiner gescheiterten Ehe, während dieser dunkelsten Periode seines Lebens, in der er auch versucht, sich das Leben zu nehmen, komponiert Tschaikowsky seine größte und beliebteste Oper Eugen Onegin. Diese „spätromantische Empfindungsoper“ nach einem Text von Alexander Puschkin kommt der romantischen Veranlagung des Komponisten entgegen und berührt die drei Themen, die ihn immer wieder bewegen, die Liebe, der Tod und das Schicksal. Die Oper ist in Russland nicht gleich ein durchschlagender Erfolg, sie wird erst im Laufe der Zeit durch die Handlung und durch die Musik, in der immer wieder auch russische Folklore anklingt, zu einer Art Nationaloper.

Stéphane Braunschweig möchte, wie ursprünglich auch Tschaikowsky, eine „intime“ Aufführung. Die Bühne des Théâtre des Champs-Élysées ist nicht überdimensional. Er möbliert sie sparsam und schrittweise. Erst ist sie ganz leer, dann sind es nur viele weiße Stühle, und schließlich eine alles umfassende getäfelte Wand und darin nur die nötigsten Möbelstücke, um eine Atmosphäre entstehen zu lassen. Und das gelingt recht gut, besonders in der Ballszene im zweiten Akt, mit der ausgezeichneten Choreografie Marion Levys und in der Spielszene mit der sehr guten Beleuchtung Marions Hewletts. Für die Briefszene lässt er als Boudoir einen ganz kleinen Raum aus der Versenkung auftauchen. Mit den ansprechenden Kostümen Thibault Vancraenenbroecks will der Regisseur durch die Mode verschiedener Epochen die Vergänglichkeit andeuten. Onegin bleibt durchwegs im dunklen Kostüm des ausgehenden 19. Jahrhunderts. Die Ballszene im zweiten Akt ist ganz Biedermeier, die Ball- bzw. Spielszene im dritten Akt zeitgenössisch, Smoking und Abendkleid. Die Bauernkostüme hingegen sind den sowjetischen Kolchosen-Propagandaplakaten entnommen. Braunschweigs Personenregie ist gekonnt und natürlich.

Gelena Gaskarova hat eine strahlend reine Sopranstimme. Sie interpretiert die Tatyana offensichtlich leidenschaftlich, aber nach außen hin doch sehr verhalten, lässt sich auch nicht zu stimmlichen Exzessen hinreißen, was ihrer Rolle eine besondere Spannung verleiht. Berührend in der langen Briefszene Puskai pagibnu ia. Gut gelingt ihr der Gegensatz vom unsicheren, exaltierten, jungen Mädchen ohne Lebenserfahrung zu Beginn der Oper zur selbstsicheren, würdigen und pflichtbewussten jungen Fürstin im dritten Akt. Ihr gegenüber auch sehr glaubhaft Jean-Sebastien Bou als der blasierte, immer gelangweilte Dandy, dem man auch am Ende der Oper seine verspäteten Liebesschwüre nicht abnimmt. Seine Baritonstimme kommt schon am Ende des ersten Akts in seiner für das junge Mädchen niederschmetternden Moralpredigt Kagda by jinz damaschnim krugom gut zur Geltung. Jean-Francois Borras erfreut mit seinem wohltimbrierten Tenor, der in den lyrischen Szenen mühelos in die Kopfstimme aufsteigt, wie im lyrischen Arioso im ersten Akt Ia liubliu vas, Olga und vor allem in der Arie Kuda, kuda, kuda vy udalilis‘ kurz vor seinem Tod. Auch schauspielerisch ist er hervorragend als der zuerst heitere, gleichmütige und dann unversöhnlich gekränkte, wütende Lenski. Alisa Kolosova verkörpert reizvoll mit klangreicher, sinnlicher Altstimme die von ihm angebetete Olga. Mireille Delunschs Larina, die Mutter der beiden Schwestern, strahlt mit etwas herber Stimme matriarchalische Würde aus. Stimmlich sowie schauspielerisch sehr einnehmend ist Delphine Haidan als die um ihren Schützling besorgte Gouvernante Filipjevna. Mit orgelnder Bassstimme erklärt Jean Teitgen als Fürst Gremin im dritten Akt, warum er seine Gemahlin Tatiana liebt: Liubvi vsie vozrasty pakorny. Erwähnt seien noch Yuri Kissin stramm als der Hauptmann und Marcel Beekman gelungen komisch in der Karikatur-Rolle des Monsieur Trinquet.

Der Chor der Opéra National de Bordeaux bewährt sich stimmlich wie choreografisch als ein wesentlicher Teil der Oper.

Ganz im Sinne von Braunschweigs intimistischer Empfindsamkeit dirigiert Karina Canellakis das Orchestre National de France mit bemerkenswertem Feingefühl. Besonders auffällig, mit wie viel Sensibilität das Orchester unter ihrer Leitung die Sänger begleitet, wie in der Briefszene, wo dadurch jeder Einsatz Tatyanas zu einem Erlebnis wird.

Alles in allem eine sehr schöne Aufführung. Das ausverkaufte Haus ist einhellig sehr zufrieden.

Alexander Jordis-Lohausen