O-Ton

Kulturmagazin mit Charakter

Foto © Stefan Brion

Aktuelle Aufführungen

Erfinder und Großkapitalisten

LES ÉCLAIRS
(Philippe Hersant)

Besuch am
2. November 2021
(Uraufführung)

 

Opéra Comique

Jean Echenoz, der das Textbuch dieser Oper schrieb, ist ein bekannter zeitgenössischer französischer Romanschriftsteller, der mit zahlreichen Literaturpreisen ausgezeichnet wurde, so 1999 mit dem prix Goncourt. Die Handlung der Oper ist Echenoz‘ Biografie Nikola Teslas Des Éclairs entnommen. Er nennt es „Fiktion ohne biographische Skrupel“ und gibt seinem Helden den Namen Gregor. Der Serbe Nikola Tesla ist der 1856 im österreichischen Kaiserreich geborene geniale Erfinder des Wechselstroms. Er wandert später nach Amerika aus, wird aber dort von Thomas Edison und anderen um seine Erfindungen betrogen und gerät schließlich in Vergessenheit. Eine wahre Geschichte, die an Josef Ressels erinnert. Um die Handlung für die Opernbühne abzurunden, fügt Echenoz noch eine weibliche Person und eine Liebesgeschichte hinzu, die der ursprüngliche Roman nicht enthält. Um durch die oft langen Dialoge die dramatische Spannung zu erhalten, lässt Echenoz in seiner Adaptation die Szenen in schneller Abfolge wechseln. Erstaunlicherweise gibt die Opéra Comique das vorliegende Textbuch 2016 bei ihm in Auftrag, ohne dass man bereits einen Komponisten gefunden hätte. Erst 2019 macht man Echenoz mit Philippe Hersant bekannt, und es beginnt eine fruchtvolle Zusammenarbeit.

Philippe Hersant, in Paris, Rom und Madrid ausgebildet und mit zahlreichen nationalen und internationalen Preisen ausgezeichnet, gehört zu den bekanntesten Vertretern der Post-Moderne in Frankreich. Während er zuerst nur Instrumentalmusik komponiert, wendet er sich seit 1992 auch der Stimme und der Oper zu. Les Èclairs ist seine dritte Oper. Es gehen ihr Le Château des Carpathes und Le Moine noir voraus, von denen erstere 2006 auch in Leipzig aufgeführt wurde.

Foto © Stefan Brion

Der Komponist findet diesen Gregor, alias Nikola Tesla, ein äußerst eigenartiges, paradoxales Wesen. Er sei sowohl überaus rigoros und gleichzeitig abergläubig. Ein modischer Dandy, der sich aber in die Gesellschaft nicht einfügen kann. Ein kindliches Gemüt und ebenso ein alter Weiser. Vielleicht auch ein bisschen verrückt, denn er gibt vor, mit außerirdischen Wesen Verbindung aufgenommen zu haben.  „Kurz, er ist schwer zu erfassen, was mir sehr gut gefällt.“  In Anlehnung an die krankhafte Besessenheit Gregors für das Vielfache der Zahl drei, ist das Werk musikalisch auf einer Serie von zwölf Tönen aufgebaut. „Was nicht verhindert, dass es sich um eine durchaus tonale Musik handelt!“ betont Hesant. Um auch dem Thema der Elektrizität sowie der elektrischen Atmosphäre von New York als auch dem elektrischen Stuhl gerecht zu werden, hat sich der Komponist entschlossen, seiner Vertonung zum ersten Mal einen Synthesizer hinzuzufügen. Sonst besteht das Ensemble aus sechs Solisten, Chor und einem Orchester von etwa 40 Musikern, in dem vor allem die Bläser- und Schlagzeugbesetzung beeindruckend ist. Hin und wieder klingen kurz Dvořáks Aus der Neuen Welt oder dann auch wieder die Beatles an. Eine Anlehnung ans amerikanische Musical ist besonders in der protzigen Auftrittsszene Parkers im zweiten Akt zu spüren. Laut eigener Aussage hat sich der Komponist auch von John Adams Doctor Atomic, von Janáčeks Die Sache Makropulos und vor allem von Strawinskys Rake‘s Progress beeinflussen lassen. In der Struktur folgt er eher der Nummernopern-Tradition des 18. als der durchlaufenden Opernmusik des späten 19. Jahrhunderts.

Clément Hervieu-Léger führt die Regie.  Unter seiner Leitung begleitet Aurélie Maestre den schnellen Szenenwechsel mit einem sehr flüssigen Wandel des Dekors auf offener Bühne. Immer wieder Architekturteile und Baustellen, Innenräume werden nur angedeutet. Der Kulissenwechsel soll dann auch den Wandel der Zeit andeuten, denn die Handlung erstreckt sich von 1880 bis etwas 1930. Die stilisierte skyline von New York verändert sich von Akt zu Akt, wird imposanter, höher. Und damit verändern sich auch Caroline De Vivaises Kostüme und passen sich der jeweiligen Epoche entsprechend an.

Die Inszenierung dieser Oper hat auch etwas von einem Märchen, denn alle wesentlichen Themen sind sehr vereinfacht und die Darstellung gewinnt hin und wieder etwas von „wie der kleine Moritz sich Amerika vorstellt“, was dem Musicalhaften entgegenkommt. Ins Märchen hinein deutet auch das immer wiederkehrende Thema der Vögel und Gregors ganz besondere Beziehung zu ihnen.  Vogelrufe tauchen daher auch verschiedentlich im Orchester auf. Und besonders in Gregors Arie Vous qui chantez, vous qui volez zu Beginn des zweiten Akts. Ein wenig bunte Fantasie in der Maskenballszene bei Parker und ein wenig Grausamkeit vor Journalisten in der Hinrichtungsszene mit dem experimentellen elektrischen Stuhl, der mehr foltert als hinrichtet mit höchst unruhigen Klarinetten im Orchester.

Foto © Stefan Brion

Hervieu-Léger leitet seine Hauptdarsteller sehr genau Schritt für Schritt und hat dafür viele gelungene Regie-Einfälle. Den von Wissenschaft besessenen, genialen, aber etwas naiven und kontaktunfähigen Gregor interpretiert Jean-Christophe Lanièce. Stimmlich wie schauspielerisch sehr einleuchtend ist der lange Niedergang vom Jüngling, der schon auf der Überfahrt nach Amerika sein Können unter Beweis stellt, indem er das durch einen Sturm lädierte elektrische System des Dampfers wieder repariert – voller Zuversicht und Begeisterung in der Eingangsarie Le ciel est traversé par les oiseaux de mer, in der Trompeten seine Freude begleiten – bis er sich  Jahrzehnte später  in einem billigen Hotelzimmer einschließt, und nicht einmal mehr Ethel, die ihn liebt und alles für ihn geopfert hat, zu sich hereinlässt.  Nach seinem letzten Je vais dormir enfin klingt die Oper im Orchester ganz leise und sanft aus. Die Ethel Axelrod, die ihren Mann verlässt, um Gregor zu retten, singt mit warmer klangvoller Mezzosopranstimme Marie-Andrée Bouchard-Lesieur, besonders verliebt in der Arie Vendredi, c’est le jour de Vénus im zweiten Akt, mit reizvoller Glockenspiel- und Gongbegleitung im Orchester. Bettys Mann, Norman Axelrod glaubt als unerschütterlicher Freund bis zum Ende an Gregors Zukunft als Wissenschaftler. Er wird dargestellt von Francois Rougier mit schön timbrierter Tenorstimme. Elsa Benoit erfreut mit kühler, glockenklarer Sopranstimme als Betty, die intellektuelle Journalistin des New York Herald, die Gregors Genie bewundert, wie in der lyrischen Arie Je suis la seule im ersten Akt. André Heyboer, eine große Zigarre im Mund, ist ganz der „megalomane“, herzlose, alle Konkurrenz vernichtende Erfinder-Großindustrielle Thomas Edison. Parker n’a jamais pris des risques inutiles donnert er in der Arie, in der er Maßnahmen ankündigt, die Gregor in der Öffentlichkeit verunglimpfen sollen. Jérôme Boutillier als Großkapitalist Horace Parker, der Gregor zuerst gegen Edison verteidigt, dann seine Erfindungen ausbeutet und ihn schließlich fallen lässt, ist auch sehr glaubhaft, wenn sich auch seine Baritonstimme erst im Lauf des Abends voll entfaltet, wie dann im Duett im dritten Akt mit Gregor J’entend de toutes parts que l’on se plaint de vous.

Last but not least sei der Chor des Ensemble Aedes gelobt. Die Chor-Melodien erinnern häufig an osteuropäische Volksweisen oder Kirchenchoräle, wenn es nicht ein amerikanisches Volkslied ist wie zu Weihnachten bei den Axelrods gleich am Anfang des vierten Akts mit Go, tell it on the mountain.

Ariane Matiakh dirigiert Soli, Chor und das Orchestre Philharmonique de Radio France mit Schwung und Umsicht durch die reichhaltige Partitur.

Eine sehr gelungene, eindrucksvolle Uraufführung, die vom Publikum mit anhaltendem Applaus bedacht wird. Einen zusätzlich starken Befall erhalten Komponist und      Textdichter, als sie beide auf der Bühne erscheinen.

Alexander Jordis-Lohausen