O-Ton

Kulturmagazin mit Charakter

Foto © Philippe Delval

Aktuelle Aufführungen

Schizophrene Visionen

DAVID ET JONATHAS
(Marc-Antoine Charpentier)

Besuch am
18. März 2024
(Premiere)

 

Théâtre des Champs-Élysées, Paris

Jean-Batiste Lully hat seine Position als Hofkomponist Ludwigs XIV. und sein damit verbundenes Privileg, als einziger Opern für die Académie Royal de Musique komponieren und aufführen zu dürfen, so gut zu verteidigen gewusst, dass es keinem anderen Komponisten gelungen ist, sie ihm je streitig zu machen. So bekleidet auch der 1643 geborene Marc-Antoine Charpentier nie eine Stelle bei Hof. Den größten Teil seiner Werke komponiert er im Auftrag des Jesuiten-Ordens. So auch die Oper David und Jonathas. Sie wird im Jesuiten-Kollegium Saint-Louis-le-Grand von den Schülern uraufgeführt, und zwar als der musikalische Teil eines sonst auf lateinisch deklamierten Prosa-Werkes in fünf Akten über Saul, in das die musikalischen Teile am Ende eines jeden Akts eingefügt werden.  Doch hat Charpentier seinen Beitrag wohlweislich so konzipiert, dass er auch als eigenständige Oper aufgeführt werden kann. Die Idee der Jesuiten war darauf gerichtet, ihren Zöglingen eine Tragödie der Vergangenheit vorzuführen. „Im Zuge der Kriege und Konflikte zwischen Völkern gehen individuelle Schicksal zugrunde, ohne dass jemand den Sinn des Ganzen einsieht. Und dass die Jesuiten in der Schule gerade diesen Text ausgewählt haben, ist besonders passend, weil die tragische Geschichte durch die Augen zweier Jünglinge gesehen wird, die durch einen Freundschafts-Schwur miteinander verbunden sind, der stärker ist als der Tod“, schreibt der Dirigent darüber.

Foto © Philippe Delval

Nicht dem strengen Formalismus der Hofmusik unterworfen zu sein, gab Charpentier beim Komponieren mehr Freiheit. So fällt beispielsweise in dieser Oper die im Prolog sonst übliche Huldigung dem König gegenüber weg. Auch spielt der Chor eine außergewöhnlich bedeutende Rolle und macht damit das Werk fast zu einem Oratorium. Doch folgt Charpentier sonst weitgehend dem Kompositions-Stil seiner Zeit. Er beschließt damit auch jeden Akt mit der traditionellen Ballettmusik, obwohl man sich nur schwer vorstellen kann, dass die Jesuitenzöglinge Ballett getanzt haben. Bei dieser Aufführung ist sie nur entre-actes-Musik. Ebenso ist er noch weit entfernt von den an Melismen reichen da-capo-Arien des Hochbarocks. Die Gesangspartien sind im Wesentlichen musikalische Deklamationen des Textes. Die Sänger haben damit weniger Möglichkeiten, ihrer Kunst Ausdruck zu verleihen. Und dennoch versucht Charpentier durch fast schon expressionistische Tonkontraste, Tempi-Wechsel und sich abwechselnde Besetzung im Orchester der Gefühlswelt der Protagonisten gerecht zu werden.

Das Textbuch ist von der Bibel inspiriert. Verunsichert und paranoid begibt sich Saul zur Wahrsagerin Pythia, die ihm ein dunkles Schicksal voraussagt.  Aus Eifersucht hatte er David verstoßen, der als Flüchtling bei den Philistern gastlich aufgenommen wurde. Dennoch verbindet weiterhin eine innige Liebe David mit Sauls jungem Sohn Jonathas. Und David fürchtet, dass ihn ein Krieg zwischen den Philistern und Israel zwänge, gegen seinen Herzensfreund kämpfen zu müssen. Doch Achis, der König der Philister, will Frieden. Sein Heerführer Joabel jedoch drängt auf Krieg und, als David ihm nicht recht gibt, verleumdet er ihn bei Saul als Verräter an Israel. Als Achis sich weigert, David an Saul auszuliefern, kommt es zum Krieg. Die beiden jungen Freunde nehmen schmerzlichen Abschied voneinander. In der Schlacht wird Jonathas tödlich verletzt. Saul verliert die Schlacht, sein Königreich und sein Leben. Obwohl zum neuen König von Israel erkoren und als solcher von Achis gekrönt, bleibt David untröstlich über den Verlust seines Freundes.

Die Geschichte ist universell, eine zeitlose Allegorie. Und der Regisseur Jean Bellorini hätte eine sehr reizvolle Aufführung geboten, wenn er sich an das ursprüngliche Textbuch und an seine darauf zugeschnittene Inszenierung gehalten hätte. Die Bühne ist leer, meist ins Halbdunkel getaucht, dann wieder in Nebel gehüllt, aus dem die Figuren, teils Menschen, teils Puppen mit Masken nur schemenhaft auftauchen, wenn sie nicht von Scheinwerfern grell erfasst werden. Die Beleuchtung allgemein ist der Handlung geschickt angepasst. Die Kostüme sind fantasievoll, zeitlos und bunt. Die Choreografie ist gut durchdacht. All das hätte genügt, um eine eindrucksvolle Atmosphäre und passende Untermalung der Oper zu bieten.

Aber Bellorini ist einer etwas obskuren Vision verfallen, die ihn etwas Zeitgenössisches, etwas aus dem Rahmen Fallendes erfinden lässt. Um es zu erreichen, „ergänzt“ er die Oper mit einer Art Rahmenerzählung und beauftragt den Schriftsteller Wilfried N’Sondé, den Text dazu zu schreiben. Die Rahmenerzählung spielt in einer psychiatrischen Anstalt anno 2023, in der Saul sich befindet. Diese Klinik, streng geometrisch, hell beleuchtet und aseptisch-sauber, taucht hin und wieder bildlich als Obergeschoss auf und steht stilistisch im krassen Gegensatz zu dem Bühnenbild der Oper darunter.

Der Text – von der Krankenschwester gesprochen, die in der Anstalt Saul betreut und tröstet – unterbricht immer wieder mal die Oper mit Kommentaren über Tod, die Sinnlosigkeit des Krieges oder mit Trost-Monologen für den gestürzten Tyrannen Saul, der von seinen Erinnerungen gequält wird.

Foto © Philippe Delval

Der Regisseur gibt für seinen Einfall folgende eigentümliche Erklärung: „Für mich ist Gesang mit Wahnsinn verbunden … Es ist nicht mehr überlegter Gedanke, oder bedächtiges, rationelles Wort, sondern ein hemmungsloser Ausbruch, der nicht mehr kontrolliert ist. Für mich heißt das für David und Jonathas: Alles, was gesungen ist, fällt in die Kategorie des Alptraums, oder zumindest des Traums oder der Unwirklichkeit.“ Und Bellorini stellt nun dem von ihm als irrationell empfundenen Gesang das gesprochene Wort der Krankenschwester gegenüber, als die Stimme der Vernunft oder auf jeden Fall des Akzeptablen und Akzeptierten, aber  auch als die Stimme der unschuldig Getöteten. Eine erstaunliche Erklärung für einen Opern-Regisseur!

Musikalisch ist die Aufführung ein reiner Genuss. Petr Nekoranec verkörpert den David sehr feinfühlig mit schön timbriertem Tenor à la française, einem sehr hohen Tenor, mit dem er mühelos von der Bruststimme in die Kopfstimme überwechselt, was besonders in den lyrischen Szenen besonders stimmungsvoll ist, wie im Duett mit Jonathas Je puis au milieu des combats im zweiten Akt oder in seiner Arie Souverain juge des Mortel im vierten Akt.

Gwendoline Blondeel singt mit glockenklarer Sopranstimme den Jonathas, und wie es sich für eine Barockoper gehört, singt sie fast ohne Vibrato wie in A-t-on jamais souffert une plus rude peine im vierten Akt. Den gequälten Saul spielt Jean-Christophe Lanièce und singt verzweifelt mit tiefem Bariton Fils malheureux, d’un plus malheureux père im fünften Akt, über den sterbenden Jonathas gebeugt. Lucile Richardots herber Mezzosopran und ein entsprechendes Kostüm verleiht der Wahrsagerin Pythia eine etwas unheimliche Aura. Ganz in Gegenteil zu ihr ist Axel Rosen mit warmem, tiefem Bass der friedliebende König Achis. Seinen konfliktfreudigen Heerführer Joabel singt und spielt glaubhaft Etienne Bazola.

Ein besonderes Lob verdient der Chor des Ensemble Correspondence. Sebastien Daucé, der als Charpentier-Spezialist gilt, ist hier mit Feuer und Flamme ganz in seinem Element. Und sein Ensemble Correspondence atmet Barock. Die beiden immer wieder anklingenden Blockflöten lassen eine pastorale Atmosphäre aufkommen, selbst, wenn eine Szene tragisch ist.

Das Publikum ist von der musikalischen Darbietung vollauf begeistert, aber gibt durch anhaltende Buhrufe beim Erscheinen des Regisseurs auf der Bühne sehr deutlich kund, dass es mit seiner Vision nicht einverstanden ist.

Alexander Jordis-Lohausen