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Musikalisches Monumental-Fresko

DIE CHOWANTSCHINA
(Modest Petrowitsch Mussorgski)

Besuch am
26. Januar 2022
(Premiere)

 

Opéra national de Paris, Bastille

Laut den Plänen Modest Petrowitsch Mussorgskis soll nach Boris Godunow die Oper Die Chowantschina der zweite Teil eines grandiosen, monumentalen dreiteiligen musikalischen Freskos der russischen Geschichte werden. Doch der dritte Teil kommt nie zustande und auch der zweite ist beim Tod des Komponisten im Jahre 1881 noch weitgehend ohne Orchestration. Von den zwei von Rimski-Korsakow, gleich nach Mussorgskis Tod, und von Schostakowitsch 1959 ergänzten Versionen kommt in der Bastille die letztere, vollständigere zur Aufführung.

In der Gruppe der fünf jungen russischen Komponisten seiner Zeit bringen Mussorgskis Opern besonders deutlich die national-russische Musik zum Ausdruck. Auch hier, wie schon in Boris Godunow, bemüht er sich, ein Musiktheater zu schaffen, das sich an den slawischen Volksliedern und -tänzen sowie an der altrussischen Kirchenmusik inspiriert und sich soweit wie möglich vom Stil der westlichen Oper befreit. So klingt auch in der Orchestration Schostakowitschs das Volkstümliche an.

Die Handlung spielt um 1682, zur Zeit eines einschneidenden Wendepunkts in der russischen Geschichte, inmitten der Strelizen-Aufstände und des Kampfes der traditionellen, feudalen Kräfte und des alten Glaubens gegen das fortschrittliche Russland Zar Peters I. Anders als Boris Godunow hat die Oper nicht eine, sondern mehrere Hauptpersonen: den Fürsten Iwan Chowansky, Anführer der Strelizen sowie der Rebellion gegen den Zaren; sein Sohn Andrei; als Mitverschwörer Fürst Golytzin; der Mönch Dosifey, der seinem Reichtum und seiner Macht als Fürst Myschetzi entsagt hat, um sich Gott zuzuwenden und der nun Oberhaupt der Alt-Gläubigen ist, die mit den Strelizen verbündet sind; Marfa, die sich aufopfernde junge Witwe, einst Geliebte des Fürsten Andrei, den sie immer noch liebt, jetzt Nonne bei den Alt-Gläubigen, aber  gelegentlich auch Weissagerin.

Es ist offensichtlich, dass sich der Konflikt für Mussorgski auf religiöser Ebene abspielt, aber er nimmt dazu keine Stellung. Wie ein Chroniker erzählt er als sein eigener Textbuchdichter in skizzenhaften Szenen, in denen sich russische Geschichte mit romanhafter Dichtung mischt, die wirren Ereignisse des von Iwan Chowansky geführten Strelizen-Aufstands gegen den Zaren; von Emma, dem jungen Mädchen aus der deutschen Vorstadt Moskaus, um die sich Vater und Sohn Chowansky streiten, die aber von Marfa gerettet wird. Dann wieder erzählt er von einem anderen Verschwörer, dem Fürsten Golytzin, der Marfa ermorden lassen will, weil sie ihm die Verbannung weissagt. Vom Treffen der drei Verschwörer, die sich auf nichts einigen können. Und von Marfa, die von der selbstgerechten Glaubensgenossin Susanna der sündhaften Liebe zum Fürsten Andrei angeklagt wird, und die sich deswegen das Leben nehmen will. Aber sie wird vom Mönch Dosifey beschwichtigt: Es sei noch nicht der richtige Zeitpunkt. Mussorgski schildert auch, wie das Komplott, das Zar Peter I. verächtlich als Chowantschina abtut, aufgedeckt und wie Fürst Iwan Chowansky inmitten seiner Frauen und  persischen Tänzerinnen in seinem Palast ermordet, und  wie Fürst  Golytzin in die Verbannung geschickt wird. Und schließlich, wie der siegreiche Zar die Ausrottung der Altgläubigen anordnet. Worauf sich Dosifey, Marfa und ihre Anhänger, aber auch Andrei, zur Selbstverbrennung entschließen. Diese Verzweiflungstat soll auf das Unabwendbare der Situation und den Untergang des alten Russlands mit all seinen Traditionen hinweisen.  Aber vor allem erzählt Mussorgski auch vom einfachen Volk, auf dessen Rücken die Konflikte der Großen ausgetragen werden.

Die Rimski-Korsakow-Version der Oper wird zum ersten Mal am 21. Februar 1886 in Moskau von einer Amateur-Truppe aufgeführt. Sie findet nur langsam ihren Weg auf die internationalen Bühnen.

Andrei Serban hat hier nicht versucht zu modernisieren, sondern lässt etwas stilisiert das alte Russland vor unseren Augen wiedererstehen, wie Mussorgski es mit seiner Musik versucht hat. Eine gewisse unleugbare Geschichts-Parallele zu unserer Zeit tritt durch diesen Kontrast vielleicht umso stärker hervor. Richard Hudsons Dekors sind teils minimalistisch, wie das hölzerne Grabkreuz auf sonst leerer Bühne, teils mit wenigen Mitteln prunkvoll wie der Thronsaal in Chowanskys Palast, teils aber auch eindrucksvoller Hintergrund für die Volkszenen, wie die Bastei der Stadtmauer Moskaus, die wie ein Schiffsbug in die Bühne hineinragt, mit den Blick auf einige Zwiebel-Kirchtürme in Hintergrund. Gepaart mit Yves Bernards Beleuchtung schaffen sie Atmosphäre.

Um eine eher statische Handlung lebendig zu machen, bedient sich Serban der geschickten Choreografie Laurence Fanons, der durch eine Vielzahl von Choristen, Statisten und Tänzerinnen die vorbeiziehenden Bilder in ständiger Bewegung hält. Die Kostüme sind der Zeit des 17. Jahrhunderts in Russland nachempfunden. Sie sind teils sehr einfach, wenn es sich um das einfache Volk handelt, teils sehr farbenfreudig, wenn es die Uniformen der Strelizen, die sehr prunkvollen Mäntel der Fürsten oder die Kleider und vor allem der Kopfschmuck der Hofdamen sind.

Anita Rachvelishvili hat einen gewaltigen, dunklen Mezzo, der weder in den hohen Registern noch in den tiefen Lagen an Klangfarbe verliert. Sie ist in dieser Oper vielleicht am eindrucksvollsten in der geheimnisvollen, unheimlichen Szene der Weissagung, in der ihre Stimme manchmal, wie im Trance-Zustand, fast tonlos wird. In seinem Auftreten wie ein alttestamentarischer Prophet, singt Dmitry Belosselskiy als der Mönch Dosifey mit einer jenen tief orgelnden Bassstimmen. Er bewegt besonders im innigen Gebet zum Abschluss des ersten Akts mit Glockenbegleitung und Frauenchor. Und dann wieder in dem langen Gebet im letzten Akt vor seinem Freitod und dem seiner Gemeinde.

Dimitry Ivashchenko ist mit kraftvoller, sonorer Kommando-Stimme und einem leuchtenden Timbre in den hohen Lagen ein eindrucksvoller Fürst Chowanki, noch sehr hoheitsvoll und siegesgewiss vor dem Volk im ersten Akt, aber fast schon demütig beim Abschied von seinen Strelizen. Seinen Sohn Andrei, der sich viel mehr für Frauen als für Politik interessiert, verkörpert Sergei Skorokhodov. Sein glänzender Tenor kommt erst in den Verzweiflungsszenen am Ende der Oper voll zu Geltung. John Daszak liefert uns mit Entschiedenheit und metallischem Tenor die Ansichten des Fürsten Golytzin. Evgeny Nikitin ist sehr intensiv in seinem Gebet des Bojaren Chaklowoty für seine Heimat. Trotz des Einspringens im letzten Moment erweist sich Anush Hovhannisyan als eine in ihrer Dramatik überzeugende Emma, während Carole Wilson glaubhaft die hasserfüllte Susanna darstellt. Gerhard Siegel begleitet uns von Anfang an durch die Oper mit seinen oft sehr komischen Litaneien als der Schreiber, der immer als erster über alles Bescheid weiß. Alle anderen Nebenrolle fügen sich erfolgreich in das ausgezeichnete Ensemble ein.

Nicht vergessen sei der Chor und der Kinderchor der Pariser Oper, verstärkt durch die Maîtrise des Hauts-de-Seine. Wohl am turbulentesten ihre Volksszene, in der die Ehefrauen ihre betrunkenen Strelizenmänner mit Besen verprügeln und Vasily Efimov als Spielmann ihnen mit seiner Balalaika aufspielen muss, damit sie ablassen.

Und – last, but not least – Hartmut Haenchen hält als Dirigent die Solisten, die Chöre und das Orchester der Opéra national de Paris in dieser komplizierten Aufführung erfolgreich zusammen.

Das Premierenpublikum vergilt den Ausführenden ihre ausgezeichnete Darbietung mit anhaltendem Applaus.

Ist es Zufall, dass diese Oper in zwei Jahrzehnten nun schon zum dritten Mal in Paris auf den Spielplan kommt? Jeder der Protagonisten will auf seine Weise das Heil Russlands, aber keiner von ihnen weiß genau, wie. „Diese Unfähigkeit, die Zukunft zu planen und sich die Zukunft vorzustellen, scheint mir erstaunlich mit der Zeit übereinzustimmen, in der wir leben, in der alle Anhaltspunkte verschwommen sind, in der der Fortschritt des Westens zu nichts führt, die Kluft zwischen den Völkern sich mehr und mehr vertieft und religiöse Fanatiker in Erscheinung treten“, schrieb schon vor zwanzig Jahren der Regisseur Andrei Serban, als seine Inszenierung der Oper in Paris zum ersten Mal aufgeführt wurde.

Alexander Jordis-Lohausen